(Redigierte Fassung ohne Bilder)
Meine Damen und Herren,
Im Juni 2005 fuhr ich mit Romuald Hazoumé in seinem Landrover auf der ockerroten Schmuggelstraße zwischen Benin und Nigeria [Ab.2]. Hazoumé stellte damals in der gerade eröffneten Fondation Zinsou aus, einem Institut für zeitgenössische afrikanische Kunst in Cotonou. Eine seiner berühmtesten Arbeiten, La Bouche du Roi, eine Installation mit Benzinkanistern, wurde in jenem Jahr auch in The Menil Collection, Houston, Texas gezeigt und sollte danach unter anderem an das Musée du Quai Branly und das British Museum weiterreisen (diese Ausstellung dort ist jetzt gerade zu Ende). Die Benzinkanister in dieser Installation sind genau so angeordnet wie einstens die Sklaven auf dem Deck des britischen Sklavenschiffes Brookes, wie die berühmte Abbildung dieses Schiffes aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigt. Benzinkanister und Sklavenhandel: Hazoumé lässt sich von einem bestimmten Kontext inspirieren und transponiert ihn in eine universale Problematik. Das Spezifische ist die Geschichte der Sklaverei und der illegale Benzinschmuggel aus dem Nachbarland Nigeria nach Benin. Das Allgemeine ist die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte wo immer auf der Welt, und dass der wirtschaftliche Wert einen höheren Stellenwert erhält als die menschliche Würde. Über Kulturspezifisches und Universelles, Lokales und Globales handelt mein Beitrag heute Nachmittag.
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Bildquelle: Afrikamuseum Berg en Dal
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Installationen mit Benzinkanistern bildeten in der Fondation Zinsou einen Teil der Gesamtschau: eine Pyramide von Kanistern, ein entzwei gesägtes Auto mit einem offenen Kofferraum voller Kanister, die einen wie Gesichter anstarren [3]. Hazoumé verändert nichts an den Kanistern: Sie sind ja bereits „vom Leben gezeichnet“, sie tragen die Kennzeichen ihres Eigentümers und die Spuren ihrer rauen Verwendung. Auf der Schmuggelstraße, wo auf völlig verantwortungslose Weise Benzin angeboten wird, machte er mich auf „runners“ aufmerksam, die fortwährend mit Kanistern hin und her fahren (voll aus Nigeria, leer aus Benin). Einige Kanister werden „aufgeblasen“: mit einem Rest Benzin über Feuer erhitzt, wodurch sie viel größer werden und nicht fünfzig sondern neunzig Liter fassen können. Von Zeit zu Zeit fuhren an uns eine Art Dreiräder vorbei: breite Motorfahrzeuge, die meistens von Behinderten (ohne Beine) gefahren werden. Beine braucht man bei diesem Transport nicht, außerdem ist so auch mehr Platz für die Kanister. Aber wenn etwas schief geht, kann der Fahrer nicht entkommen und verbrennt er bei lebendigem Leib. Es gibt regelmäßig Unfälle. Hazoumé zeigte Stellen, wo die Fahrer innerhalb von fünf Minuten in Flammen aufgegangen waren. Einer seiner Arbeiten gab er den vielsagenden Titel La Roulette Beninoise. Er sagte, dass er, im Gegensatz zu manch anderem erfolgreichen afrikanischen Künstler, nicht das Bedürfnis habe, sich anderswo niederzulassen. Hier war er zuhause, dies war sein Biotop. „Wir haben etwas zu erzählen. Wir sind nicht arm, wir haben eine reiche, interessante Kultur. Unsere Kunst ist nicht morbid wie so manche Kunst in Europa. Wenn du in Europa eine Ausstellung besuchst, kannst du nicht lächeln, denn diese Kunst macht dich nicht glücklich, du kannst aber auch nicht weinen, denn sie macht dich nicht unglücklich, sie macht dich nicht betroffen.”
Arbeiten von Romuald Hazoumé befinden sich in der Sammlung zeitgenössischer afrikanischer Kunst von Felix Andries Valk (1929-1999), die nach seinem Tod im Afrika Museum Berg und Dal untergebracht wurde [4,5]. Es handelt sich um Masken, die nicht für einen Maskenzug geschaffen wurden. Aus Wegwerfmaterialien (oft die Oberseite von Kanistern) schafft Hazoumé wahre Charakterköpfe; mit ihnen hält er der Konsumgesellschaft einen Spiegel vor. Als Galerist, Organisator von Ausstellungen, Museumsdirektor und Sammler profilierte sich Felix Valk als Pionier, indem er die Gegenwartskunst nicht-westlicher Kulturen überhaupt, insbesondere jedoch die aus Afrika, in die niederländische Kunstwelt einführte. In einer Zeit, als dafür noch kaum Interesse bestand, kaufte er Arbeiten von Künstlern an, die aus anderen kulturellen Quellen als der westlichen Kunstgeschichte schöpften. Dieser nicht-westlichen Kunst gab er einen Platz im Museum für Ethnologie in Rotterdam, das unter seiner Leitung den Kurs in Richtung Weltmuseum einschlug. Nach seiner Pensionierung eröffnete er in Arnheim eine Galerie, die wie keine andere in den Niederlanden eine Plattform für die nicht-westliche zeitgenössische Kunst wurde. Die Sammlung, die er zusammenstellte, wurde für die Entwicklungen der afrikanischen zeitgenössischen Kunst in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts repräsentativ. Das war auch das Jahrzehnt, in dem diese Kunst international zum Durchbruch gelangte.
Es ist interessant, um einen Augenblick bei diesem Moment des Durchbruchs innezuhalten. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war bei den Kunstmuseen noch kaum ein Interesse an der nicht-westlichen Kunst zu bemerken. Da sie ja in keiner Beziehung zum westlichen kunstgeschichtlichen Kanon stand, war sie ‚außer Diskussion’. Angesichts des Zustroms von Migranten kam langsam der Gedanke auf, ihren künstlerischen Ausdrucksformen einen Raum zu bieten. Das geschah dann namentlich im ethnologischen Rahmen, und zwar in völkerkundlichen Museen, wo man es für notwendig hielt, den kulturellen Kontext zu erklären. Eine ungewollt neokolonialistische Haltung: Kunst mit außer-europäischen Quellen konnte, ganz im Gegensatz zur westlichen Kunst, offensichtlich nicht autonom gezeigt werden. Jedoch wurden in dem ‚White Cube’ gerade solche Arbeiten ausgestellt, die ohne den kunstgeschichtlichen Bezugsrahmen des Westens absolut unbegreiflich waren. In den achtziger und neunziger Jahren hatte die Konzeptkunst, in der vor allem auf westliche Kunstbegriffe verwiesen wird, ihren Höhepunkt erreicht. Die westliche Kunstwelt war ein autistisches Phänomen geworden; sie hatte den Blick nach innen gerichtet und spielte mit Kodes, mit denen nur die Elite der ‚Mandarine’ vertraut ist. Damals arbeitete ich als Kunstkritiker für eine niederländische Tageszeitung und mehr als einmal hatte ich beim Betreten einer Ausstellung in Galerien und Instituten, die als ‚Heilige Häuser’ galten, das Gefühl, dass das Blut aus mir wich. ‚Da haben wir's wieder’, dachte ich dann. Es gab wenig, das die Sinne ansprach, aber umso mehr wurde dies vorgegaukelt. Die westliche Kunst war eine Kunst des Kopfes. Afrikanische Kunst war und ist eine Kunst des Herzens.
Auf Einladung der türkischen Botschaft arbeitete ich 1988 an einer Ausstellung über türkische Künstler in den Niederlanden mit. Außerdem war ich am Völkerkundemuseum in Rotterdam an einer Reihe Einzelausstellungen ausländischer Künstler beteiligt (damit sind Künstler gemeint, die aus nicht-westlichen Quellen schöpfen. Deutsche oder englische Künstler bezeichnet man normalerweise nicht als Ausländer). 1988 fand im Rotterdamer Museum auch die Ausstellung Kunst aus einer anderer Welt statt, in der Heimatkunst und autonome Kunst aus Indien, Freetown, Haiti und Indonesien gezeigt wurde. Was für eine Erleichterung! Die haitianischen Künstler mit ihrer Voodoo-Inspiration erzählten von einer beseelten Welt. In ihren Adern strömte noch Blut! Und 1989 erfolgte dann der Durchbruch – etwas später werde ich darauf ausführlicher zurückkommen - mit Jean-Hubert Martins weltberühmter Ausstellung Les Magiciens de la Terre in Paris. Unter dem Einfluss dieser Megaausstellung (hundert Künstler aus allen Teilen der Welt nahmen an ihr teil), wo zum ersten Mal zeitgenössische westliche und nicht-westliche Kunst auf einem internationalen Podium nebeneinander gezeigt wurden, wurde sich die westliche Kunstwelt langsam bewusst, dass auch anderswo - was man als ‚Peripherie’ oder ‚Dritte Welt’ betrachtete - wichtige neue Kunst geschaffen wurde. Es zeigte sich, dass die anderen Kulturen nicht statisch waren und über Künstler verfügten, die es verdienten, neben ihren westlichen Kollegen zu stehen. Der Titel Les Magiciens wirkt wie ein Kunstgriff. Ein ‚magisches’ Phänomen schließt ja nicht beim westlichen Kunstverständnis an. Zahlreiche Künstler aus Afrika nahmen teil, und es bestand kein Zweifel, dass sie aufgrund des typisch afrikanischen Charakters ihrer Arbeit, wie figurative Särge, erzählende Gemälde und zeitgenössische Varianten der traditionellen Grabpfähle und Masken ausgewählt wurden. Die Kritiker meinten, dass der exotische Charakter der nicht-westlichen Kunst zu sehr betont wurde. Ob gefeiert oder geschmäht: Die Ausstellung Magiciens verfehlte keineswegs ihre Wirkung.
Die ersten westlichen Liebhaber afrikanischer Gegenwartskunst begeisterte in erster Linie der nicht-akademische Erfindungsgeist. Die afrikanische Kunst wurde nicht wie die westliche Kunst als blutleer erfahren: Sie hatte noch einen unmittelbaren Bezug zum Leben. Der Sammler Jean Pigozzi geriet außer Rand und Band, nachdem er Magiciens gesehen hatte: „Ich werde wirklich verrückt. Das ist meine letzte Obsession. Ich bin total begeistert und gehe ganz darin auf. Ich glaube, dass ich wirklich süchtig geworden bin.“ Er ließ von einem der Konservatoren der Ausstellung, André Magnin, eine Sammlung afrikanischer Gegenwartskunst zusammen¬stellen. Diese Sammlung, die übrigens unter dem Namen CAAC (Contemporary African Art Collection) bekannt wurde, zählt mittlerweile mehr als sechstausend Objekte. Magnin sammelt für Pigozzi Arbeiten von Künstlern in Afrika - also nicht von Künstlern aus der afrikanischen Diaspora. Die meisten Künstler, deren Arbeiten angekauft werden, sind Autodidakten. Kunstunterricht ist in Afrika nicht weit verbreitet und für manche sowieso nicht zugänglich. Einige begannen als ‚Straßenkünstler’: Sie malten Reklameschilder (wie die bekannten Friseurschilder) und komische Darstellungen von Szenen aus dem täglichen Leben. Namentlich in Zaire (der heutigen Demokratische Republik Kongo) profilierten sich Maler, die anfangs mit den billigsten Materialien arbeiteten (der Ausdruck floursackpainting verweist auf den Träger, der verwendet wurde: Mehlsäcke), und die sich, je bekannter sie wurden, auch immer besseres Material leisten konnten. Es gab keine Galerien (dies beginnt sich mittlerweile zu ändern), deshalb stellte man auf den Außenwänden aus. Daher war es wichtig, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen, indem man zeigte, dass man gute Porträts oder humoristische Szenen malen kann.
Ein Straßenkünstler, der weltberühmt wurde, ist Chéri Samba (1956, Zaire). Samba entdeckte eine andere Methode, um die Menschen vor seinem Atelier still stehen zu lassen: Er malte Texte in seine Gemälde. Man muss sich nur die Zeit nehmen, um sie zu lesen, und wenn ein paar Leute stehen bleiben und schauen, kommen von selbst mehrere dazu. Schon in der Schule ragte Samba in Zeichnen über alle anderen hinaus und er verkaufte Zeichnungen, die er nach Comics aus einer Zeitschrift anfertigte. Mit sechzehn verließ er gegen den Willen seines Vaters, einem Schmied, aber mit Zustimmung seiner Mutter, einer Bäuerin, seinen Heimatort, um in Kinshasa sein Glück zu versuchen. In der Stadt suchte er Arbeit in der Straße, in der die Maler von Reklameschildern ihre Werkstätten haben. Er arbeitete eine Zeit lang für Werbeagenturen, sorgte für die Beschriftung und lehrte sich selbst malen, indem er sich die Arbeiten der Reklamemaler genau ansah. Für eine Zeitung konnte er ein bekanntes Comic zeichnen, sodass sein Name bereits bekannt war, als er 1975, neunzehn Jahr alt, sein eigenes Studio eröffnete. Da er immer berühmter wurde, konnte er um das Jahr 1988 damit beginnen, mit Acrylfarben auf professioneller Leinwand zu arbeiten. Seine Themen waren von Anfang an mit dem Leben in Kinshasa unzertrennlich verbunden; humoristisch und moralisierend kommentierte er zahlreiche aktuelle Themen und versah die Darstellungen mit Texten wie in einem Comic. André Magnin lud Samba zur Teilnahme an Magiciens ein. Vor seiner Abreise nach Paris malte Samba ein Spruchband auf der Mauer seines Studios mit dem Text: “Der Maler Chéri Samba ist gerade dabei, nach Paris abzureisen, Magiciens de la Terre”. Es zeigte sich, dass es gar nicht so einfach war, den Menschen zu erklären, dass er nicht nach Paris fuhr, um magische Praktiken auszuüben, sondern um an einer Ausstellung teilzunehmen. Diese Ausstellung führte zu seinem internationalen Durchbruch.
Felix Valk, der ein Jahr nach Magiciens, 1989, aus gesundheitlichen Gründen als Direktor des Völkerkundlichen Museums zurücktrat, war genauso begeistert wie Pigozzi. „Es kommen fantastische Dinge aus diesen Ländern; ich bin ganz besessen davon. Ich habe mehr als genug Beweise dafür, dass sich dort ein Reservoir an Begabung befindet“, sagte er Anfang der neunziger Jahre in einem Interview. Zunächst war es die afrikanische städtische Kunst, die ihn fesselte. Er begann, die Friseurschilder und die erzählende Malerei zu sammeln. Im Katalog zur Ausstellung eines Teils seiner Sammlung schrieb er 1996: „Das Ziel des heutigen afrikanischen ‚Künstlers’ ist es nicht, wie im Westen, Kunstwerke zu schaffen, die vorhergehende Kunst-produkte oder Strömungen kommentieren oder ergänzen oder nach dem westlichen ‚l'art pour l'art’ Prinzip zu arbeiten, sondern um eine Sicht des Lebens selbst zu geben, von der Vergangenheit bis jetzt. Sie sind die Seher, Propheten und Weisen, die diese Sicht auf das Heute und die Vergangenheit gestalten.” Über Valk erwarb das Afrika Museum nicht nur zwei berühmte Gemälde von Chéri Samba [6,7], sondern auch Spitzenwerke des mittlerweile verstorbenen Moke [8,9,10]. Auch von Twins Seven Seven, dem bekanntesten Vertreter der sogenannten Oshogbo-Schule in Nigeria (die in den sechziger Jahren von Ulli und Georgina Beier und Susanne Wenger geleitet wurde), hatte er wichtige Arbeiten. Nachdem die Witwe eines niederländischen Kaffee- und Kakaohändlers eine lobende Rezension über die Sammlung Valk gelesen hatte, beschloss sie, ihre Sammlung von mehr als zwanzig Höhepunkten von Twins Seven Seven aus den sechziger bis achtziger Jahren dem Museum zu schenken, sodass das Afrika Museum nun die größte Sammlung Twins Seven Seven aus seiner besten Zeit besitzt [11,12,13,14].
Valk erweiterte seinen Blick und stellte auch Künstler aus der afrikanischen Diaspora aus, wie Aboudramane (1961, Elfenbein¬küste, wohnt und arbeitet in Paris) und den kubanischen Santería-Priester Santiago Rodríguez Olazábal (1955, Havanna). Beide verarbeiten einen afrikanischen Hintergrund zu eigenwilligen Bildern. Bei Aboudramane besteht das afrikanische Element aus seinen Erinnerungen an die traditionelle afrikanische Baukunst [20], bei Olazábal handelt es sich um seine Beziehung zur Vodun-Geisterwelt, einer Religion, die in Afrika ihren Ursprung hat und von den Sklaven in das karibische Gebiet mitgenommen wurde. Solch ein Synkretismus ist für die Künstler charakter¬istisch, die außerhalb Afrikas leben und daher viele verschiedene Einflüsse in sich aufnehmen [15,16,17,18,19]. Verglichen mit der städtischen Kunst, mit der die Geschichte der afrikanischen zeitgenössischen Kunst begann, handelt es sich bei der international orientierten afrikanischen Kunst weniger um erzählende Kunst, sondern um Darstellungen mit größerer autonomer Aussagekraft. Es handelt sich, um mit den Worten von Susan Vogel in Africa Explores aus dem Jahre 1991 zu sprechen, um eine Entwicklung von ‚urban art’ zu ‚international art’ - im Wesentlichen also um die Entwicklung, die Chéri Samba durchmachte, der ja in seinen Werken explizit die Stellung der afrikanischen Kunst in der internationalen Kunstwelt thematisiert.
Seit den achtziger Jahren hat sich im westlichen Kunstverständnis viel verändert. Auf Univer-sitäten und in Museen geht man nicht mehr von einer Kunstgeschichte aus, vielmehr ist man sich bewusst geworden, dass mehrere Kunstgeschichten gleichzeitig bestehen, wenn sie auch nicht immer parallel nebeneinander laufen, sondern in fortwährender Wechselwirkung zu einander stehen. Afrikanische Künstler dürfen nicht als ‚afrikanisch’ isoliert, zum Folklorismus verurteilt werden, aber ebenso wenig dürfen sie dazu gezwungen werden, sich an eine westliche konzeptuelle Bildsprache zu assimilieren. Mit den Worten des Malers Tchif [21] aus Benin: „Was ist Kunstgeschichte eigentlich? Ich brauche nicht auf eine Kunstakademie in New York oder Paris zu gehen, um Kunstgeschichte zu studieren. Kunstgeschichte steht immer in Beziehung zu deinen Vorfahren. Meiner Meinung nach musst du deine Vorfahren befragen, um dahinter zu kommen, was um dich herum geschieht. Das ist es, was ‚Kunstgeschichte studieren’ für mich bedeutet! Kunstgeschichte ist nicht die Geschichte der anderen Maler, der alten Maler. Es ist die Geschichte deiner Tradition, deiner Kultur! Du musst zu deiner eigenen Geschichte eine Beziehung haben, um dich voll und ganz äußern zu können.” Das ist ein interessanter Punkt. Dieser Maler fordert das Recht, sich auf das Verhältnis zur eigenen Kulturtradition zu berufen. Warum sollte ein afrikanischer Künstler sich einem westlichen Kunstverständnis anpassen müssen? Aber ebenso wenig darf sich ein afrikanischer Künstler in einem „exotischen Garten“ einschließen lassen, um mit dem Maler Iba Ndiaye [22] zu sprechen, der aus Senegal gebürtig ist und in Paris wohnt. 1959 wurde Ndiaye von Senghor, dem ersten Präsidenten des unabhängigen Senegal und dem großen Förderer der Négritude-Ideologie, eingeladen, bei der Errichtung der Abteilung Arts Plastiques an der Ecole Nationale des Arts du Sénegal in Dakar mitzuwirken. Als Beispiel eines Négritude-Gemäldes zeige ich eine Arbeit von Bocar Pathé Diong [23], die Senghor bei seinem Besuch im Jahr 1974 dem Afrika Museum schenkte. Während Senghor Künstler anspornte, sich auf ihre afrikanische Eigenart zu besinnen, warnte Ndiaye gerade auch vor einer auferlegten Authentizität. Europäische Künstler haben sich vielfach von der afrikanischen Kunst inspirieren lassen, weshalb sollte es für afrikanische Künstler nicht möglich sein, sich von Rembrandt oder Van Gogh inspirieren zu lassen? Ndiaye sieht Kunst als eine universelle Sprache: „Alle Redensarten, alle Zivilisationen sind komplementär zueinander, weil alles Teil des Universellen ist.“
Lokale Inspiration oder internationale Orientierung: Damit komme ich zur vorhin angekündigten Nuancierung des ‚Durchbruchs’ der afrikanischen Gegenwartskunst. Das Dilemma der heutigen afrikanischen Künstler ist, dass der Anschluss an die Sprache der Macht - also an den noch immer vorherrschenden westlichen Kanon - mehr Perspektiven bietet als die Erhaltung kultureller Eigenart. Felix Valk behauptete in den achtziger Jahren, dass die einseitige, westlich orientierte Sicht des Kunsthistorikers für die völkerkundlichen Museen eine Herausforderung bedeute: Sie konnten Material zeigen, das jeden in Staunen versetzt. Und so viel hat sich seither nicht geändert. Künstler, die postkoloniale Themen in der konzeptuellen Bildsprache des Westens behandeln, wie Yinka Shonibare und Meschac Gaba, werden in Kunstmuseen ausgestellt. Sobald jedoch ein nicht-westlicher Künstler Werke mit einer erkennbaren kulturspezifischen Klangfarbe schafft, wird er noch immer in einem völkerkundlichen Museum landen. Künstler wie Aboudramane und Olazábal beweisen jedoch, dass es möglich ist, die eigene Identität in einem internationalen Kontext zu behalten. Mit den Arbeiten solcher Künstler aus Afrika und der afrikanischen Diaspora erweitert das Afrika Museum seine Sammlung zeitgenössischer Kunst.
So erwarb das Museum neulich ein Spitzenwerk aus dem Gesamtwerk der in London lebenden Bildhauerin Sokari Douglas Camp (1958, Nigeria), die den Ehrentitel ‚Commander of the British Empire’ erhielt. Anlässlich der sehr tragischen Ereignisse im Nigerdelta, wo der Ertrag der Ölgewinnung nicht oder kaum der örtlichen Bevölkerung zugute kommt, die Umwelt jedoch nachhaltig zerstört wird, schuf Douglas Camp1996 die Figur (oder die Figurengruppe, die Arbeit besteht nämlich aus fünf Figuren) Alagba in Limbo [24,25]. Frei übersetzt: Alagba in einer instabilen Situation (‚limbo’ hat mehrere Bedeutungen, neben Ungewissheit kann es auch auf den Limbus, die Vorhölle verweisen). Der Titel bezieht sich auf die Welt der Geisterwesen, die die Kalabari mit ihren Maskenzügen verehren, aber auch auf die prekäre Situation der Einwohner des Nigerdeltas. Ken Saro Wiwa, ein Schriftsteller/Politiker, der sich für die Rechte einer der Minderheitsgruppen, der Ogoni, einsetzt, wurde 1995 gehängt. „Mit dem Mord auf Ken Saro Wiwa hatte ich das Gefühl, dass wir (Nigerianer) vom Weg abgekommen sind, den Kontakt, die Gerechtigkeit verloren hatten. Deshalb wählte ich den Titel Alagba in Limbo“, erzählte sie mir während eines Besuchs in ihrem Atelier im Januar 2004. Alagba ist Douglas Camps liebste Maskenzugfigur, weil es sich um eine weibliche Figur mit einem ziemlich sanften Charakter handelt.
[Alagba steht am Beginn des Maskenzugzyklus. „In einem Maskenzugzyklus müssen fünfunddreißig verschiedene Geisterwesen auftreten. Die Figuren sind saisonabhängig, wie der Weihnachtsmann und der Osterhase. Aber die Menschen im Delta arbeiten nicht genau nach dem europäischen Kalender; so muss sich der Vollmond im genau richtigen Stadium befinden, um Alagba erscheinen zu lassen. Es geht also nicht nur darum, im Kalender das richtige Datum zu finden, es müssen auch allerlei andere Dinge berücksichtigt werden. Und auch die Tänzer müssen alle kommen - sie haben ja ihre tägliche Arbeit - und das gelingt nicht immer. Deshalb wird das Jahr ziemlich ausgedehnt. Insgesamt dauert es etwa siebzehn Jahre, bevor der Zyklus von fünfunddreißig, der mit Alagba beginnt, komplett ist.“ Alagba, eine in jeder Beziehung bemerkenswerte Frau, ist die erste Gottheit, die in Kontakt mit der Menschenwelt tritt. „Sie ist eine ziemlich verwirrte, geistesabwesende Frau, vergesslich und schwerhörig. Sie hat etwas Komisches an sich. Sie trägt einen eindrucksvollen Kopfschmuck. Bevor der Tänzer auftritt, steht dieser Kopfschmuck in einem Heiligtum; ihm wird eine Ziege geopfert.“
Die Figur wurde 1996 für eine Ausstellung in Containern im Hafen von Kopenhagen geschaffen, als diese Stadt kulturelle Hauptstadt Europas war. Vier Maskenfiguren tragen auf ihren Schultern eine horizontale Gestalt mit einem beeindruckenden Kopfschmuck. Unter dem Rock dieses liegenden Maskenwesens ist zu sehen, dass der Tänzer männlichen Geschlechts ist. Man sagt, dass die Männer die Maskentänze einstens von den Frauen, denen sich die Geisterwesen offenbart hatten, übernommen hätten. Wie im englischen Theater zur Zeit Shakespeares Frauenrollen von Männern übernommen wurden, so werden auch bei dem Maskenzug weibliche Geisterwesen von Männern getanzt. Douglas Camp lässt diese Travestie in ihrer Arbeit deutlich sehen. Die Tragik der Körperhaltung und der Ausdruck der Verzweiflung erinnern an Die Bürger van Calais (1889) von Auguste Rodin (1840-1917).
„Ich habe auch Alagbas Gesellen Gesichter gegeben. Ich hatte so etwas bis jetzt noch nicht getan, weil dies das Gefühl erwecken könnte, dass man die Kalabari-Philosophie verwerfen würde. Diese besagt, dass, wenn Dinge zu realistisch werden, man auf die eine oder andere Art Gott verspottet. In dieser Figur ist Alagba nicht tot, sondern verwirrt, und ihre Träger sind fassungslos. Die Figuren im Bild Alagba in Limbo machen einen verstörten Eindruck und man weiß nicht, ob sie jubeln oder heulen. Es war auch sehr wirkungsvoll, ganz nahe an die Gesichter heranzugehen, wie das in ihrem ursprünglichen Container unvermeidlich war, weil dann der Eindruck entstand, dass sich der Betrachter in einer drängenden Menge befand wie während des Maskenzugs.”]
Wie diese Künstlerin aus London bei den Traditionen ihres Herkunftslandes Nigeria anschließt, so arbeiten auch Künstler in Benin mit der sie umgebenden Kulturtradition. Zwei Beispiele: die éminence gris der zeitgenössischen Kunst in Benin, Cyprien Tokoudagba (1939) aus Abomey und Gérard Quenum (1971) aus Porto Novo. Benin ist für die Vodun Religion bekannt. Man erfährt die Welt als ein Kräftefeld, in der Natur und Materie beseelt sind und sowohl Ahnen als auch Geisterwesen positiven wie auch negativen Einfluss ausüben können. Mit den Vodun-Göttern stellt man sich daher auch besser auf guten Fuß. In Ouidah, die Stadt, in der am 10. Januar alljährlich das große Vodun-Fest stattfindet, findet man überall - im Heiligen Wald und entlang der Sklavenroute, die zur Küste führt - Vodun-Statuen von Cyprien Tokoudagba (1939, Benin). Dieser Künstler baut zurzeit in seinem Geburtsort Abomey - bekannt wegen der Palastanlage mit Lehmreliefs, die in Emblemen die Heldentaten der Könige erzählen - ein Vodun-Museum, in dem die Besucher Figuren und Gemälde von Vodun-Göttern bewundern und kaufen können [26,27]. In Ouidah, der Stadt, die in dem Roman über einen weltberühmten Sklavenhändler, Der Vizekönig von Ouidah von Bruce Chatwin, im Mittelpunkt steht, ist Vodun eine Touristen-attraktion. Vom Pythontempel bis zum Heiligen Wald und Sklavenhafen kann der Besucher kaum einem Fremdenführer entkommen. Gegen Bezahlung darf er alle Sehenswürdigkeiten besuchen und fotografieren (mit dem Fotografieren von Menschen muss man in Benin übrigens vorsichtig sein, denn einem alten Glauben zufolge wird die Seele des Fotografierten gestohlen).
Der Bildhauer Gérard Quenum [28,29] schafft Pfahlfiguren mit Köpfen aus altem Kinderspielzeug. Auf den ersten Blick wirken sie keck oder rührend, aber bei genauerem Hinsehen erscheint die Kindheit alles andere als rosig. Der Pfahlkörper einer seiner Figuren ist bedeckt mit teilweise geschmolzenen Injektionsspritzen. „Was ich ausdrücke, ist keine Schönheit, es geht über die Schönheit hinaus“, erzählte mir Quenum. Er rückt seinen zusammengesetzten Figuren bisweilen mit Feuer zu Leibe. Schwarz versengt zeugen seine Puppenköpfe von einem Dasein, das Schutz und Unschuld entbehrt. Quenum sammelt abgedanktes Kinderspielzeug und sucht auf den Müllhalden, ob er etwas Richtiges findet. Mit seinem schäbigem Material kommt er der Dramatik des täglichen Lebens in Afrika gefährlich nahe. Die Kinder, die er vorführt, sind von Krieg, Rauschgiftkonsum, Armut und Krankheiten gezeichnet. Von statischen Puppen, der unpersönlichen Dutzendware für die wohlhabenden Bürger, werden sie zu Individuen, die eine Geschichte zu erzählen haben. Die Herstellung von Figuren (wie die Bocios, anthropomorphe Figuren aus Holz, an die Elemente wie Stoff, Schnüre und Metall befestigt werden, um sie ‚aufzuladen’) ist eine Methode, um die Vodun-Kräfte zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. Obwohl sich die Figuren von Quenum inhaltlich nicht auf den Vodun-Kult beziehen (sie wurden nicht geschaffen, um ‚benutzt’ zu werden), lässt sich dieser Bezug dennoch an ihrer Form erkennen. Quenum lässt sich von der Bildsprache seiner kulturellen Umgebung inspirieren. So entstehen Arbeiten aus einem lokalen Kontext mit einer globalen Aussagekraft. Es muss nicht so sein, dass zwischen dem Lokalen und dem Globalen ein gespanntes Verhältnis herrscht. Wichtig ist die Bereitschaft, wie Felix Valk für andere Eindrücke offen zu stehen, mit anderen Worten, über die Grenzen hinaus zu schauen.
Mit einer Einzelausstellung über Santiago Rodríguez Olazábal – die jetzt schon beinahe vollständig im Afrika Museum untergebracht ist - beendete Felix Valk im Jahr 1999, übrigens auch seinem Todesjahr, seine Karriere. Im selben Jahr erhielt er auf der ‚Kunstrai’, der Amsterdamer Kunstmesse, den Art Amsterdam Award . Werke von Olazábal und anderen Künstlern der afrikanischen Diaspora werden auch weiterhin im Afrika Museum ausgestellt. Unlängst erhielten wir eine große Altarinstallation von diesem Priester-Künstler als Geschenk. In Vorbereitung ist eine große Themaausstellung über Spiritualität in den Arbeiten der Künstler aus der afrika¬nischen Diaspora: Roots – Afrika außerhalb Afrikas ist für das Frühjahr 2008 geplant. Der Leitgedanke für diese Ausstellung ist die Beseelung, ein Begriff, den wir im Zusammenhang mit Ethnographika gedankenlos verwenden, der aber auch für die zeitgenössische Kunst aus den Gebieten gilt, in die einst die Sklaven verschleppt wurden und dort ihr geistiges Leben mit dem Christentum vermischten. In der Kunst aus Brasilien und aus der Karibik sprach man bereits von einer postmodernen, eklektischen Mentalität, lange bevor dies in der westlichen Kunst ein allge-mein gebräuchlicher Begriff werden sollte. Die Sklaven durften ihre Religion - mit Quellgebieten in Kongo und Umgebung (die Kongo minkisi Figuren), Nigeria und in den Nachbarländern (das Vodun - Pantheon) nicht öffentlich ausüben. Daher entschieden sie sich, die katholischen Heiligen mit den Geisterwesen des Vodun paarweise zusammenzufügen, wie beispielsweise beim Candomblé in Brasilien und dem Voodoo auf Haiti. Auf Haiti sagt man, dass ein spezifisches Geisterwesen, ein Lwa, ‚marche avec’, mit einem bestimmten Heiligen verbunden ist. So werden Zeichen und Symbole afrikanischer Herkunft mit christlicher Symbolik vermischt. Ein Voodoo - Altar ist ein prächtiges postmodernes Kunstwerk, eine bedeutungsvolle Assemblage aus vielen verschiedenen Elementen und Materialien.
Im Vorfeld dieser Ausstellung erwarb das Afrika Museum das Gemälde Das letzte Abendmahl van Frantz Augustin Zéphirin (Cap Haitien 1968) [30]. Er entwickelte einen leicht erkennbaren eigenen Stil: Seine Gemälde sind vollständig von Menschen, Tieren und Lwa ausgefüllt und bewohnt. Mit großer Liebe zum Detail, mit einer vollständigen dekorativen Ausgestaltung sowohl der Figuren als auch der Umgebung (horror vacui) zeigt er eine durch und durch beseelte Welt, sprühend vor Energie. In Zéphirins Letztem Abendmahl begegnen wir mehr Figuren als üblich: Außer Jesus mit seinen Jüngern befindet sich auf diesem Bild eine Gesellschaft Geisterwesen, auf der Erde wimmeln Dämonen. Die Energien der Lwa werden bis zu diesem zum Äußersten ‚geladenen’ Moment angezogen. Das Gemälde ist ein prächtiges Beispiel für die Verschmelzung von christlicher Thematik mit einer ursprünglich afrikanischen Spiritualität. Es gleicht einer Welt, die uns fremd ist, aber sie ist vertrauter, als wir denken. Bei uns ist die Beseelung im grellen Licht der Ratio verdampft, aber ursprünglich war auch die westliche Welt ab der Antike vom Gebrauch magischer Mittel, von Ritualen und Beschwörungen durchdrungen. Wie die heidnischen europäischen Götter christianisiert wurden, so wurden die christlichen Heiligen auf Haiti ‚voodoonisiert’. Im Grunde bringt die Voodoo – Version des Heiligen uns näher an unsere eigene ursprüngliche Spiritualität heran. Wenige westliche Kunsthistoriker sind sich der Tatsache bewusst, dass eine internationale Koryphäe wie Jean-Michel Basquiat (1960-1988), der in kurzer Zeit in New York im Kreis um Andy Warhol Furore machte, in einigen Arbeiten typisch haitische Voodoo - Themen - wie Exu, das Geistwesen der Straßen, Straßenkreuzung und Türen – malte [34].
Eine afro-amerikanische Künstlerin, die in den Vereinigten Staaten sehr bekannt ist, ist Renée Stout (1958). Mit ihren beiden Großmüttern besuchte Renée Stout als Kind sowohl die katholische Kirche als auch die der Baptistengemeinde. Die Welt des Sakralen sprach sie sehr an; im Carnegie Museum wurde sie von einem afrikanischen ‚Fetisch’ Bild ergriffen; später besuchte sie das National Museum for African Art in Washington. Besonders der Aspekt des ‚Healing’ fesselte sie, das traditionelle afrikanische Heilverfahren mit Kräutern, magischen Substanzen und Kraftbildern. Das ‚Healing’ bezieht sie auf die Heilung gesellschaftlicher Missstände (in den Arbeiten der ‚African-Americans’ äußert sich das Interesse für ihre afrikanischen Wurzeln oft in einem gesellschaftskritischen Kontext). Sie vertiefte sich auch in die Transformation afrikanischer Glaubenssysteme. So wurde der Vodou von den Sklaven von Haiti nach New Orleans gebracht, eine Stadt, die Stout regelmäßig besuchte. Nicht nur Stouts Affinität zu den Kongo Nkisi Figuren lässt sich an ihren Figuren deutlich ablesen, sondern auch der Bezug zu ihrem eigenen Leben und zu ihrer Familiengeschichte. Ihre Arbeit zeigt, wie sie - meistens sehr seriös, aber bisweilen auch mit etwas Humor – an ihrer eigenen Einstellung zum Leben arbeitet, indem sie Aspekte diverser religiöser Vorstellungen miteinander verbindet. Das Kongo-Kosmogramm spielt dabei eine Rolle (als Kreuzpunkt von Himmel und Erde und als Symbol für den Zyklus von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt). Auch die Numerologie gehört zu ihrem magischen Weltbild. In House of Obeah [31] (so heißt eine magisch-religiöse Praktik, die wahrscheinlich mit der Baptistengemeinde assoziiert wird), eine Arbeit aus 2005, die vom Afrika Museum angekauft wurde, kommen die verschiedenen Elemente in einem Reliefwerk zusammen, das auch auf den nicht eingeweihten Betrachter sofort surrealistisch wirkt.
Es ist eine betörende Welt, in die wir uns mit der neuen Ausstellung Roots begeben. Aber auch eine Welt mit diffusen Grenzen. Der deutlich nachweisbare afrikanische Einfluss wird in der Karibik bisweilen mit mehreren kulturellen Quellen vermischt – beispielsweise mit indianischen Quellen, deren Empathie für die Natur und Verbundenheit mit der Geisterwelt auch in afrikanischen Quellen zu finden ist. Hier kann José Bedia [32,33] genannt werden (Kuba, 1959, wohnt in Miami). Dieser Künstler verkörpert einen eklektischen, spirituellen Menschen. Bedia wurde 1984 in der Palo Monte Religion initiiert; er schöpft bei seiner Arbeit aus seiner tiefen Verbundenheit mit den afro-kubanischen Religionen (auf den Kongo bezogen), die auf Kuba, aber auch an seinem heutigen Wohnort Miami, praktiziert werden. Außerdem lässt er sich von der Spiritualität verschiedener ursprünglicher Völkergruppen in Amerika inspirieren, von den Sioux bis zu den Yanomami. Die sich daraus ergebenden kulturellen Begegnungen und Transformationen stellt er in seinem Werk dar. Eine geistige Reise, die an dem Ort beginnt, wo alle Wege, die der Menschen und die der verschiedenen Kulturen, zusammen kommen, und der somit zu einer geistigen Kreuzung wird, die mit der Kreuzung vergleichbar ist, an der die Anhänger afro-amerikanischer Religionen Eshu/Elegba ihre Opfer darbringen, um ‚den Weg zu öffnen’ und den Kontakt zur Geisterwelt herzustellen. Wie Basquiat hat auch José Bedia sich mit Eshu beschäftigt. Das gilt auch für die brasilianische Künstlerin Eneida Sanchez [35,36]. Sie baute eine große Installation mit dem Titel Trance, die aus Radierungen besteht, auf denen ein Rinderauge dargestellt ist, das auf den Kreuzpunkten Eshu geopfert wird. Mit Roots erreichen wir den Kreuzpunkt, an dem sich die afrikanische Spiritualität mit den anderen kulturellen Quellen verbindet. Danach lässt sich das afrikanische Element immer weniger spezifizieren und zurückverfolgen. Diese Kreolisierung ist im Grunde auch im Westen aktuell; in einer postmodernen Zeit suchen die Menschen ja bei diversen Kulturtraditionen, was ihnen vom eigenen kulturellen Kanon offensichtlich nicht geboten wird. Und so verschmilzt das Lokale mit dem Globalen und das Kulturspezifische geht in das Universale über.