Erstmals untersucht ein deutsches Kunstmuseum seine Geschichte auf die Spuren der Kolonialzeit und die Verflechtungen von Handelsgeschichte, Mäzenatentum und Sammlungsgeschichte. Die Ausstellung „Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit“ in der Kunsthalle Bremen präsentiert ab dem 5.August 2017 die Ergebnisse eines durch die Kulturstiftung des Bundes geförderten Forschungsprojekts.
Die Hansestadt Bremen war im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein blühendes Zentrum des schnellwachsenden internationalen Handels. Dabei profitierte sie sowohl von kolonialer Expansion als auch von der Auswanderung von Millionen von Menschen nach Übersee. Auch im 1823 gegründeten Kunstverein in Bremen haben diese globalen Verflechtungen Spuren hinterlassen. Bis heute blieben sie jedoch größtenteils unentdeckt.
Ein von der Kulturstiftung des Bundes gefördertes Forschungs- und Ausstellungsprojekt widmet sich nun erstmals der Erforschung dieser kolonialen Bezüge. Es verknüpft die Geschichte des Kunstvereins in Bremen mit der Handelsgeschichte der Hansestadt und befragt Werke von u.a. Paula Modersohn-Becker, Emil Nolde und Fritz Behn auf ihre kolonialen Zusammenhänge. Die blinden Flecke, die dabei sichtbargemacht werden, thematisieren insbesondere die Darstellung und den Umgang mit dem Fremden in der Kunst und Werbung während der Kolonialzeit. Diese europäischen Sichtweisen in der Sammlung der Kunsthalle Bremen werden mit außereuropäischen, darunter auch zeitgenössischen Positionen der Kunst in Dialog gesetzt. Die Ausstellung „Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit“ (5.August bis 19. November 2017) soll eine kritische Schule des Sehens sein und einen Diskussionsraum eröffnen, in dem die Besucher Fragen nach dem Umgang mit dem Fremden vor dem Hintergrund der globalen Handelsgeschichte der Hansestadt Bremen und seinem kolonialem Erbe reflektieren können.
Unbekannter Künstler, Yoruba, Nigeria. Queen Victoria, um 1900. Völkerkundemuseum Hamburg, Foto: Brigitte Saal
Die Kunsthalle Bremen ist in Deutschland das erste Kunstmuseum und in Europa nach der Tate Britain das zweite Kunstmuseum in Europa, das seine Sammlung auf Kolonialgeschichte untersucht. Die Forschungsergebnisse werden in der Ausstellung „Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit“ präsentiert. Den Titel der abschließenden Ausstellung erklärt die Kuratorin Julia Binter wie folgt:
„Der Begriff ‚blinder Fleck‘ kommt eigentlich aus der Augenheilkunde und benennt jene Stelle unseres Auges, auf der sich keine Lichtrezeptoren befinden und mit der wir somit nicht sehen können. Mein Forschungsprojekt geht den kolonialen Blindstellen in der Sammlung der Kunsthalle nach, die wir aufgrund eingefahrener Wahrnehmungsmuster und unzureichender Sensibilisierung für koloniale Themennur schwer wahrnehmen können.“
Künstler/in unbekannt, Duala, Kamerun. Händler mit Zylinder, o. J.Holz, bemalt. Schenkung von Kapitän Bornemann 1898, Übersee-Museum Bremen, Foto: Matthias Haase
Die Sammlung japanischer Holzschnitte der Kunsthalle Bremen
Die Kunsthalle besitzt Meisterwerke aus 300 Jahren japanischer Holzschnittkunst, der Großteil davon aus der Edo-Zeit (1603–1868), das heißt der Zeit vor der erzwungenen Öffnung Japans durch die USA im Jahr 1853. Den Grundstock der Sammlunglegte Dr. Heinrich Wiegand, Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd und Vorsitzer des Kunstvereins, als er 1905/06 eine Reise nach Japan finanzierte und freie Fahrt und Fracht auf den Dampfern des Norddeutschen Lloyd bereitstellte. Einige wenige Blätter in der Sammlung der Kunsthalle, die in der Ausstellung „Der blinde Fleck“ zum ersten Mal präsentiert werden, reflektieren die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Japan nach der Öffnung des Landes. Werke von Kawanabe Kyōsai (1831-1889) und Kobayashi Kiyochika (1847-1915) zeigen auf, wie sich japanische Künstler mit Japans neuer geopolitischer Position auseinandersetzten.
Katsushika Hokusai - Der Berg Fuji in einer Teeplantage in Katakura in der ProvinzSuruga, 1830–31mehrfarbiger Holzschnitt, 24,7 x 37,2 cm. Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, Kupferstichkabinett
Anonym, Japan 19. Jahrhundert. Blonde Europäerin mit Hut und Blumen. nishiki-e (mehrfarbiger Holzschnitt), 321 x 234 mm. Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen
Künstler der Moderne und ihre Faszination mit Kunst aus Afrika und Ozeanien
Der damalige Direktor der Kunsthalle Gustav Pauli legitimierte die Aufnahme japanischer Holzschnitte in die Sammlung mit dem „offenkundigen Einfluss,den gerade ihre Holzschnitte auf unsere Malerei des späten neunzehnten Jahrhunderts ausgeübt haben“ (Gustav Pauli). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es aber vor allem auch Plastik aus Afrika und Ozeanien, die den Künstlern in Deutschland zur Inspiration für neue Ausdrucksformen diente, wie Werke von August Macke (1887-1914), Paula Modersohn-Becker (1876–1907), Max Pechstein (1881–1955) und Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) in der Sammlung der Kunsthalle Bremen verdeutlichen. Dabei ging es den Künstlern jedoch nicht um ein Verständnis des kulturellen Kontextes, in dem diese Plastiken entstanden waren. Auch negierten sie die Autorenschaft der Künstler dieser Werke in den Kolonien. Vielmehr diente Kunst aus Afrika und Ozeanien als Projektionsfläche für die eigenen Träume und Fantasien.
Max Pechstein - Begegnung, 1918. Lithographie, 49,5 x 40,7 cm. Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, Kupferstichkabinett. © 2017 Pechstein Hamburg / Tökendorf
Ordnen, Sammeln, Ausstellen: Der Norddeutschen Lloyd und das Übersee-Museum
Der Norddeutsche Lloyd wurde von Künstlern wie Max Pechstein und Emil Nolde (1867–1956) genutzt, um kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die deutschen Kolonien im Pazifik zu reisen. Die Schiffe transportierten darüber hinaus auch die japanischen Holzschnitte sowie Kunst aus Südamerika und Ozeanien. Letztere wurde aber nicht der Sammlung der Kunsthalle, sondern jener des Übersee-Museums (damals Städtisches Museum für Natur-, Völker- und Handelskunde) zugeordnet. 1922 wurde erstmal seine Auswahl an Leihgaben aus dem Übersee-Museum in der Kunsthalle gezeigt. Die Ausstellung lud ein, Kunst aus Afrika, Südamerika, Asien und dem Pazifik nicht als Ethnographica, das heißt als Beweisstücke für eine bestimmte Kultur oder Gesellschaft, sondern als eigenständige Kunstwerke unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Obwohl keine Leihliste überliefert ist, wagt „Der blinde Fleck“ in Kooperation mit dem Übersee-Museum eine Annäherung an diese historische Ausstellung und zeigt einige der außereuropäischen Kunstwerke nach knapp 100 Jahren wieder in der Kunsthalle.
Bernd Steiner - Norddeutscher Lloyd Bremen, um 1927. Chromolithographie. Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven
Begegnungen mit dem Fremden in der Kunst
Die Kunsthalle besitzt eine Reihe von Werken, die die Faszination und das Studium von als fremden wahrgenommenen Menschen und Kunst durch Künstler der europäischen Modernewiderspiegeln. Vorwiegend weiße, männliche Künstler wie Georg Kolbe (1877-1947), Ludwig Kirchner (1880-1938) und Paul Gauguin (1848-1903) malten Women of Colour in erotischen und exotischen Posen. Die indisch-ungarischeKünstlerin Amrita Sher-Gil (1913-1941) schuf 1934 ein Selbstporträt als Tahitianerin und kehrte den Blick von Gauguin und seinen Zeitgenossen auf widerständische Art und Weise um. Das Selbstporträt ist als Leihgabe aus der Sammlung V. und N. Sundaram nach seiner Präsentation auf der documenta 14 ab 27. September 2017 in „Der blinde Fleck“ zu sehen. Darüber hinaus zeigen Leihgaben aus dem Übersee-MuseumBremen und dem Museum für Völkerkunde Hamburg, dass sich auch Künstler in den Kolonien ein Bildvon den Kolonialherren machten. Die teils humoristischen, teils verstörenden Darstellungen von Europäern halten den Besuchern einen Spiegel vor.
Paul Gauguin - Maske einer Tahitianerin. Bronze, 38 x 23 x 12 cm. Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen
Handel in der Hansestadt. Koloniale Bildwelten bis heute
Bremer Kaufleute waren seit Jahrhunderten über die Niederlande und Großbritannien in koloniale Handelsbeziehungen eingebunden und hatten im 19. Jahrhundert beträchtlichen Anteil an der Kolonialisierung überseeischer Gebiete. Das soziale Leben, dass sich rund um Kolonialwaren etablierte, fand seinen Niederschlag in Gemälden lokaler Künstler, so zum Beispiel in Paula Modersohn-Beckers (1876-1907) Stillleben mit Äpfeln und Bananen (1905)und Elisabeth Perlias (1906-1993) Kaffeegarten an der Weser (o.D.). Darüberhinaus vermittelten Werbeplakate des Norddeutschen Lloyd, die als Leihgaben des Deutschen Schifffahrtsmuseum in der Ausstellung zu sehen sind, die globalen Netzwerke und Ansprüche der Hansestadt. Die nigerianisch-deutsche Künstlerin Ngozi Schommers (*1974) hat sich in einem Auftragswerk kritisch mit Bremer Kolonialwarenverpackungen aus der Sammlung des Übersee-Museumsauseinandergesetzt, die sie in ihrer Installation (Un)Framed Narratives (2017) knapp 50 Porträtswestafrikanischer und afro-deutscher Frauen gegenüberstellt.
unbekannte/r Künstler/in - Bremen, der Schlüssel zu den Ozeanen, um 1935. Chromolithographie. Deutsches Schifffahrtsmuseum Bremerhaven
Schlaglichter Bremer Kolonialgeschichte
Fritz Behn (1878-1970), der Bildhauer, der das ehemalige „Kolonialmonumental Elefanten aus Backstein entwarf, das 1932 hinter dem Bremer Bahnhof enthüllt wurde, ist in der Sammlung mit der Bronzefigur Stehender Massai (1910) vertreten. Diese Figur spiegelt zusammen mit den Leihgaben Nubier (1911) und Afrikaner (1911) die rassistischen Theorien der Kolonialzeit wider. Gerahmt werden diese Figuren u.a. mit historischen Filmaufnahmen der Elefanten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Gemeinsam mit einer bebilderten Zeitleiste werfen sie Schlaglichter auf Bremenskoloniale Vergangenheit und ihr Erbe.
Postkarte des ehemaligen „Kolonial-Ehrenmals“ in Bremen,vor 1945. Sammlung Joachim Zeller