Museen sollen Geschichten über und mit Hilfe von Objekte/n erzählen, über Ereignisse, Kulturen, Vergangenes berichten. Neil MacGregor versuchte sogar nichts weniger als ‚die ganze Geschichte der Welt in 100 Objekten‘. Für die Australische Autorin Alice Proctor gehen solche Ansätze nicht weit genug. Sie sind ihrer Meinung zu einseitig und zu sehr geprägt von dem westlich-zentrierten Blick. In ‚The Whole Picture - The colonial story of the art in our museums & why we need to talk about it‘, das bisher nur auf Englisch erschienen ist, möchte sie ein ganzheitliches Bild der Objekte aus kolonialem Kontext in den Museen zeigen, auch ihrer dunklen Seite auf den Grund gehen.
Inhalt
Procter unterscheidet in ihrem Buch drei Arten von Museen, denen sie jeweils mehrere Kapitel widmet:
- The Palast, die ursprünglichen Museen, entstanden aus Sammlungen in königlichen und aristokratischen Heimstätten: Ursprünglich von Eliten für Eliten. Typisch dafür ist der Louvre.
- The Classroom: Museen, bei denen es nicht darum geht, den eigenen Geschmack zu zelebrieren, sondern die bilden und Wissen vermitteln möchten. Die Welt und die Objekte sollen vermessen, kategorisiert und geordnet werden - genau wie die Menschen durch die Einteilung in Rassen.
- The Memorial: Museen als Gedenkstätten, sei es für 9/11, für Ausschwitz oder Hiroshima.
Zu den jeweiligen Museumstypen erzählt die Autorin in ca. 10-seitigen Kapiteln Geschichten, die über das übliche Narrativ hinausgehen. Dabei gibt es zu fast jedem Kapitel ein Bild eines Objektes oder einer Ausstellung als Anker zu dem Text.
Bei den Palästen berichtet sie beispielsweise von Sir William Hamilton, der als Botschafter in Neapel Hunderte von Objekten wie zum Teil antike Bronzen, Vasen, Keramik, illegal aus dem Land schaffte und an das British Museum verkaufte. Heutzutage liegt die Bekanntheit von Hamilton deutlich hinter der seiner Frau, Lady Hamilton. Oder von der blutigen Geschichte hinter dem Regent Diamanten, den man im Louvre besichtigen kann - und welche Rolle die berüchtigte East India Company dabei spielte.
Ein wichtiger Zeitzeuge ist für Procter ein Gemälde von Spiridione aus dem 18. Jhd., in dem allegorisch gezeigt wird, wie unterwürfig Indigene der Britannia Geschmeide anbieten. Es wird die Überlegenheit der Engländer gefeiert und manifestiert.
Bei den Klassenzimmern zeigt Procter auf, wie u.a. durch die Reisen von Capt’n Cook nicht nur Objekte geraubt und Menschen getötet wurden, sondern durch die Bilder und Erzählungen von den fremden Gebieten der Grundstein für ihre Kolonialisierung gelegt wurde.
Sehr spannend ist die Geschichte von Mai, dem ersten Polynesier, der England besuchte. In London wird er zu einer Sensation: Auf Gemälden ist er als ‚Edler Wilder‘ oder als ‚Speciman‘, als Exemplar seine Rasse, wiedergegeben. Von ihm selbst, was er dachte und fühlte, weiß man so gut wie nichts. Er lebt aber weiter als von europäischem Blick geprägte Repräsentation. Mai starb gut betucht in Tahiti, nachdem er freiwillig zurückgekehrt war.
Das für mich schönste in dem Buch abgebildete Objekt ist Tipu‘s Tiger, eine bemalte, über 1.70 m große Skulptur (oder auch ein Musikinstrument), auf der ein Tiger einen Soldaten erlegt. Tipu Sultan, der Herrscher von Mysore in Indien, ließ sie anfertigen. Nach seiner Niederlage gegen die East India Company wurde sie zusammen mit einer Vielzahl anderer Stücke geraubt und kam nach England. Heute befindet sie sich im British Museum. Tipu, den die Franzosen unterstützten, wurde zu Lebzeiten von den Engländern zum überlebensgroßen Bösewicht hochstilisiert, der Hindus und Christen abschlachten ließ. Nach seinem Tod in der Schlacht ging Mysore an eine indische Dynastie, die der East India Company wohlgesonnen war.
Die Kapitel über Gedenkstätten erzählen den Hintergrund zu einem Schnitzwerk aus Stein der Haida, bei dem ein weißer Man eine Indigene an den Haaren hält und mit einer Pistole bedroht. Und von der berühmt/berüchtigten Geschichte der Mokomokai. Diese mumifizierten, reich tätowierten Köpfe der Maori waren Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts quasi ein Exportschlager: Seefahrer und Reisende konnten solche Köpfe von den Einheimischen erwerben, die dafür eigene Gefangene und Sklaven ermordeten.
Nach den Storys über historische Objekte und wie sie in Museen gezeigt werden, geht es darum, wie zeitgenössische Künstler die Geschichte hinter den Objekten neu interpretieren und ihnen einen neuen Kontext geben. Der Meilenstein für diese Entwicklung ist die Ausstellung ‚Mining the Museum‘ von Fred Wilson aus dem Jahr 1992. In ihr arrangierte er die Sammlung der Maryland Historical Society so um, dass Geschichten erzählt werden von Diversität, Rassismus und Kolonialismus. So platzierte er in einem Raum, den er ‚Metalwork 1793-1880‘ nannte, Sklaven-Fesseln neben kunstvollen Silberarbeiten. Schließlich seien diese Dinge miteinander verwoben: die Produkte von Reichtum und Macht und die Unterdrückung, durch die sie finanziert wurden. Wilsons Werk ist eine Art Blaupause für nachfolgende Ausstellungen zur Dekolonialisierung bis heute.
Wie heikel gut gemeinte kritische Ausstellungen sein können, zeigt die Arbeit von Bret Bailey aus dem Jahr 2014. In 12 Tableaus stellten in London Schwarze Performer/Schauspieler historische Ereignisse nach, die von Rassismus und imperialer Gewalt handeln - eine Art Reenactment. Bereits im Vorfeld, aber auch während der Ausstellung gab es massive Proteste von Aktivisten: Wie könne ein weißer Regisseur solche Tableaus mit Schwarzen Menschen arrangieren - die dann auch noch von einem größten Teils weißen Publikum gesehen werden. Demonstrationen und hitzig geführte Diskussionen in den Medien kann man auf YouTube finden.
Was Rassismus in den USA bedeutet, davon berichtet ein Sarg im Emmett Till Memorial. Der 14-Jährige Till wurde von zwei Weißen in den 1950er Jahren zu Tode geprügelt und fürchterlich entstellt. Die beiden Männer kamen frei, weil die Frau des einen vor Gericht einen Meineid begann - und eine Verurteilung in einem Gericht in den Südstaaten damals eh kaum wahrscheinlich war. Zu dem Fall von Emmett Till gibt es im Internet oder auf YouTube mehr Informationen. Es ist schwierig, davon nicht emotional mitgenommen zu sein oder zumindest wütend zu werden. Dass das Martyrium des Emmett Till nach wie vor aktuell ist, zeigen die Black Lives Matter-Bewegung und Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze.
Im letzten Abschnitt, The Playground, werden Ausstellungen und Aktionen von Künstlern aus den letzten Jahren aufgeführt, bei denen es darum geht, wer und wie man über Geschichte und Identität spricht - allerdings nicht durch historische Objekte. Großartig war beispielsweise die Arbeit von Kara Walker mit dem Titel Sugar Baby. Die Künstlerin hat dafür überlebensgroße Skulpturen aus Zucker erschaffen, die aussehen wie eine Sphinx. Allerdings zeigen sie nackte Schwarze Frauen. Walker weist auf die Verbindung zwischen Zucker = Symbol für Reichtum und Sklaverei hin. Sie thematisiert damit auch die sexuelle Gewalt, die Schwarze Sklavinnen oft erleiden mussten.
Mit viel Ironie hat der Australier Daniel Boyd berühmte Briten porträtiert, die die ersten weißen Kolonien in seinem Heimatland geformt haben: Ölgemälde, bei denen er diese ‚Gründerväter‘ mit Pirateninsignien wie Augenklappe oder Papagei gemalt hat. Mit einem Künstler wie Boyd schließt sich ein Kreis: Durch seine Gemälde werden die Objekte in den Museen umgedeutet. Und dies ist für Alice Procter der Königsweg: Die Repräsentationen der weißen kolonialer Unterdrückung sollen nicht beseitigt, sondern ihre Geschichten mit Hilfe anderer Werke erweitert und neu gedeuted werden.
Bewertung
Ich gebe es zu: Ich bin froh, dass ein Buch zu diesem Thema von einer anglo-amerikanische (bzw. australischen) Autorin stammt und keiner/m deutschen, denn es ist sehr gut lesbar - auch wenn es nur auf Englisch verfügbar ist. Selbst mit ‚nur‘ gutem Schulenglisch kommt man leicht durch. Dazu sind die Kapitel im Schnitt nur 10 Seiten lang und damit sehr gut konsumierbar.
Dies bedeutet aber nicht, dass dies ein Buch für den schnellen Genuss ist: Wer möchte kann jedes Kapitel anhand der Anmerkungen vertiefen oder zumindest schauen, was das Internet dazu zu bieten hat. Dies ist ein wirklich lohnendes Unterfangen.
Sehr gut finde ich dazu, dass es zu fast jedem Kapitel ein Bild oder Foto gibt: Damit wird der Anspruch gehalten, ‚andere‘ Geschichten zu bestehenden Objekten zu erzählen.
Das Buch ist natürlich nicht perfekt: Procter zeigt Einzelbespiele, es ist aber kein umfassendes Werk. So kommt der afrikanische Kontinent recht wenig vor und sie hätte gerne Themen wie die British East India Company noch weiter vertiefen können. Dazu bietet 'The Whole Picture' Ansatzpunkte für Ausstellungskonzepte, aber eben keine Gebrauchsanweisungen dafür.
Schließlich verspricht sie zwar ‚The Whole Picture‘, aber Geschichte ist wohl noch wesentlich komplexer, als dass man sie in 10 Seiten fassen könnte, und es gibt nicht nur Schwarz und Weiß: Beispielsweise haben natürlich die Weißen indigene Völker unterdrückt. Dies geschah aber häufig genug unter Mithilfe von anderen Indigenen, die sich dadurch Vorteile verschaffen wollten. Dementsprechend fehlt mir ein Kapitel über das Königreich Benin (oder über Dahomey), in dem die Herrscherdynastie nicht nur als Opfer der Briten, sondern eben auch als elende Sklavenhändler gezeigt werden, die sie in früheren Jahren war. Dabei soll natürlich nicht von den Taten der Europäer (oder auch der Araber) abgelenkt werden. Sklaverei ist aber ein zeiten- und kulturenübergreifendes Phänomen. Andererseits geht es in dem Buch um die „colonial story“, da macht es vielleicht Sinn, sich darauf zu beschränken.
Mein Fazit: ‚The Whole Picture‘ ist ein lesbares, dabei zum Glück nicht überambitioniertes Buch. Es sensibilisiert für die koloniale Geschichte des Westens und lädt dazu ein, Objekte in Museen und ihre Geschichte vielschichtig zu betrachten, weg von der Deutungshoheit des privilegierten Westens. Zusätzlich es ist ein Plädoyer dafür, dass Objekte aus kolonialem Kontext nicht weggeschlossen werden, sondern mit ihrer Hilfe auch die dunklen Seiten des Kolonialismus erzählt werden. Dies sollten sich deutschsprachige ethnologische Museen zu Herzen nehmen, wo es scheinbar den Trend gibt, solche Objekte im Giftschrank wegzusperren und durch zu verkopfte Ausstellungen zu ersetzen.
The Whole Picture, The colonial story of the art in our museums & why we need to talk about it von Alice Procter (Autor)
Softcover, 320 Seiten, 2021, Cassell (Verlag), Ausgabe in Englisch
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Zum Lehmanns-Link zu The Whole Picture
Vielen Dank an Octopus Books für das Rezensionsexemplar