In Heiden im Appenzeller Land gibt es ein Museum mit einer Sammlung ethnografischer Objekte aus Indonesien, dem ehemaligen ‚Niederländisch-Indien‘. Wie die Sammlung in das Museum kam und was die Schweiz, die ja keine eigenen Kolonien hatte, mit Kolonialismus zu tun hat, darum geht es im Buch Ferne Welten - Fremde Schätze, herausgegeben von Andreas Zangger und Ralph Harb. Es ist die Begleitpublikation zur Sonderausstellung 2020 im Museum Heiden und - dies als Spoiler: Das Buch ist großartig!
Inhalt
Im ersten Kapitel beschreiben die Autoren, welch dramatische Entwicklungen es in Heiden und dem Appenzeller Vorderland bis ins 19. Jahrhundert gab. Wie sich eine Textilindustrie und parallel dazu eine Bildungsoffensive entwickelte - häufig gegen den Willen einzelner Pfarrer, denn: „Ihnen war die religiöse Erziehung des Volkes wichtiger, und sie befürchten, die Popularisierung der Bildung könnte ihre Autorität in Frage stellen“. Aufgrund eines zunehmenden Protektionismus war die Textilwirtschaft dann auf der Suche nach neuen Märkten und hoffte sie in Übersee zu finden, insbesondere in Sudostasien.
Es suchten allerdings nicht nur abenteuerlustige Kaufleute ihr Glück in der Fremde. 200 Jahre lang war die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) die „größte und erfolgreichste Wirtschaftsorganisation“ der Welt, die ihre Interessen auch mit einem großen Söldnerheer „brutal“ durchsetzte. So wurde Anfang des 17. Jhd. die gesamte Bevölkerung der Insel Banda in Indonesien getötet oder vertrieben - „13.000 bis 15.000“ Menschen. Während ihres Bestehens hat die VOC ca. eine Million Mann engagiert, „hauptsächlich Matrosen und Söldner“. Zwischen 1814 und 1920 waren alleine 8000 Schweizer Söldner in Indonesien in der niederländischen Kolonialarmee tätig.
Die ‚Borneo-Abteilung‘ des Museums mit ihren Ethnografika entstand, als ab 1870 Schweizer Städte untereinander darin wetteiferten, „dem Publikum ihre Weltläufigkeit zu präsentieren.“ Die Sammlungen sollten zur visuellen Schulung anregen: Man wollte Muster aus fremden Ländern kopieren. Sie vermittelten auch eine vereinfachte Weltordnung (‚Kulturstufenmodell‘). Und sie hatten den Zweck, junge Menschen in ihren exotistischen Träume zu verstärken und Entdeckerfantasien zu wecken - mit dem Ziel, junge Kaufleute zu rekrutieren. Aber es ging natürlich auch um die Repräsentation der Stifter.
Die Biografien von 4 Schweizer Kaufleuten rekonstruiert Andreas Zangger. Sie geben eine Ahnung von dem Leben und der Zeit in den Kolonien, natürlich mit Fokus auf die dort lebenden Europäer. Langweilig war der Alltag, außer man interessierte sich für Natur, für Tiere (d.h. Jagden) oder fürs Lesen. Und so blieben Saufgelage oder das Zusammenleben mit einer Nyai, Haushälterin und “Konkubine“.
Der 1842 geborene Herrmann Küng arbeitete beispielsweise in Singapur und heiratete Mary Ganno, Tochter eines Amerikaners und einer Asiatin („das Halbblutmädchen“). Die dort herrschende Apartheid zwang das Paar auszuwandern. Er fand eine neue Position in Sumatra, wo die Tabakindustier boomte. Küng versuchte ohne die häufig gewalttätigen Vorarbeiter mit den dort arbeitenden chinesischen ‚Kulis‘ auszukommen. Er wurde von Chinesen ermordet.
Und Mary Ganno? Sie heiratete Alfred Krüsi, den Neffen von Küng, und lies sich später in Zürich von ihm scheiden - damals ein veritabler Skandal.
Über 60 Seiten enthalten Fotografien aus der Sammlung von Johann Traugott Zimmermann, einem der Portraitieren, die für das Buch/die Ausstellung gesichtet und kommentiert wurden. Sie lassen vielfältige Lesearten zu, beispielsweise die Deutung von Fotografien im kolonialen Kontext: Wie die Europäer posieren und die Einheimischen auf solchen Fotos fast ausschließlich in untergeordneter Haltung arrangiert sind. Solche hierarchische Fotografie ist aber keine Erfindung des Kolonialismus: Auf Gruppenbildern, die nur Europäer zeigen, sind ebenfalls die gesellschaftlich führende Personen zentral platziert, die weniger wichtigen finden sich an den Rändern.
Die von Zimmermann fotografierten oder gesammelten Bilder zeigen aber auch Porträts von Indigenen und sie geben Grubenarbeitern ein Gesicht. Wie ein Fremdkörper, aber bemerkenswert, sind Fotos von chinesischen Prozessionen in Batavia.
Auf den letzten 40 Seiten werden die Ethnografischen Gegenstände des Museums durch großformatige Fotos und Beschreibungen vorgestellt. Darunter sind Kriegsschilder aus Borneo, Häusermodelle aus Sulawesi oder auch Flechtkunst und Schmuck.
Bewertung
Es ist eigentlich ganz einfach: Ein gutes Buch ist für mich eines, in dem ich etwas Neues erfahre, das mich wirklich interessiert. In diesem Sinne ist klar: Fremde Welten - Fremde Schätze ist ein gutes Buch: Ich habe nichts gewusst von der Schweiz und der Schweizer Textilwirtschaft und ihren Beziehungen zu Kolonien, v.a. in Indonesien. Oder von der großen Anzahl an Schweizer Söldnern. Und selbst das Museum Heiden habe ich nicht gekannt. Kurz; auf fast auf jeder Seite habe ich etwas für mich Neues erfahren.
Das Buch ist aber sogar mehr als ‚nur‘ gut: Es ist sehr lesbar geschrieben, bietet großartige Fotografien - zeitgenössische und die Objektfotos - und Erläuterungen, die einen vieles verstehen lassen: Beispielsweise, warum und wie sich Appenzeller in Indonesien engagierten oder wie koloniale Strukturen aussahen. Kolonialismus erscheint als eine Art Manchesterkapitalismus mit anderen Mitteln zu einer Zeit, als dieser in Europa zunehmend in Frage gestellt wurde. Das Buch lässt einen verstehen lernen.
Am spannendsten fand ich jedoch die eher nüchtern beschriebenen Biografien. Allein schon das Leben von Herrmann Küng und seiner Frau Mary Ganno bieten genügend Stoff für eine Netflix-Serie oder einen Kinofilm wie Jenseits von Afrika. Mit genauso viel Romantik, allerdings deutlich mehr negativer Seiten und mit zeitgemäßer Kolonialismuskritik.
Ferne Welten - Fremde Schätze ist ein Buch, das einen verstehen lernen lässt. Auf alle Fälle wird ein Besuch des Museums Heiden baldmöglichst auf meiner Tagesordnung stehen!
Ferne Welten/Fremde Schätze - Ethnografische Objekte und frühe Fotografien aus Niederländisch-Indien, Andreas Zangger, Ralph Harb (Herausgeber)
188 Seiten, 2020, edition clandestin (Verlag)
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Vielen Dank an die edition clandestin für das Rezensionsexemplar