Für den Focus ist die Sache klar: Im Artikel „Ausflugsziel Völkerschau: Als ganze Massen zu den „Freak-Shows“ und „Negerdörfern“ strömten“ aus dem Jahr 2020 schreibt Armin Fuhrer zu den ‚Menschenzoos‘, die vor allem ab den 1870er Jahren u.a. in Deutschland veranstaltet wurden: „(Die Veranstalter…) … scheuten keine Kosten und Mühen, sondern schickten Agenten nach Afrika, Asien und Amerika, um dort ihre „Ausstellungsobjekte“ anzuheuern. Die Ureinwohner, die sich auf diese Weise locken ließen, hatten keine Ahnung, was auf sie zukam.“ Im weiteren Artikel geht es um rassistische Klischees, die über die Ausgestellten und ihre Ethnien verbreitet wurden, über die Faszination der Besucher an der Exotik und der Erotik, oder auch über zeitgenössische Kritik an den Veranstaltungen.
Warum es in dem Artikel aber wie so häufig nicht geht: Die Ausgestellten als handelnde Individuen zu sehen, die mehr waren als Opferstereotype. Der unwissende „Eingeborene“ (welch Wortwahl für einen Artikel aus dem Jahr 2020!) als willenloser Spielball von Veranstaltern wie Carl Hagenbeck. Wenn man liest, wie Beiträge immer noch über die Köpfe der ‚ausgestellten‘ Indigenen hinweg geschrieben werden, dann fragt man sich, wie es sein kann, dass selbst heutige Autoren solch einen Eurozentrismus zelebrieren.
Dass sich die indigenen Menschen, die bei diesen Shows mitgewirkt haben, eben nicht auf Opferstereotype reduzieren lassen, das verdeutlicht ein Buch aus dem Jahr 2007, das an Relevanz nichts verloren hat: In ‚Nayo Bruce – Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa‘ verfolgt die vor kurzem verstorbene Schweizer Autorin Rea Brändle den Weg von J. C. Nayo Bruce aus Togo und seiner Familie. Bruce entspricht so gar nicht dem Klischee des unwissenden „Eingeborenen“. Er war selbstbewusst, gebildet, ging unbeirrbar seinen Weg und wenn es sein musste, legte er sich auch juristisch mit Widersachern an und verwickelte sie in langandauernde Auseinandersetzungen. Prinz Nayo, nach eigenen Aussagen Sohn eines Königs, war 1989/90 als Statist in Völkerschauen in Deutschland tätig. Wieder zurück in der deutschen Kolonie Togo, akquiriert er vor Ort Teilnehmer für eine Ausstellung in Berlin, kümmert sich auch um die Gelder für Lohn, Verpflegung, Kostüme und die Hin- und Rückreise und selbst um das Recht auf die Einnahmen aus dem Souvenirverkauf. 1896 findet die Ausstellung statt, bei der Prinz Nayo ebenfalls mitspielt.
Kurz nach seiner Rückkehr nach Togo bricht er erneut mit einer Delegation nach Deutschland auf, um ab 1898 für Schausteller Albert Urbach zu arbeiten, wobei er auch auf der Bühne steht, bzw. ‚ausgestellt‘ wird. Es ist ein Zusammenarbeit, die von zunehmende Spannungen begleitet wird - wobei es u.a. geht um die Einnahmen aus dem Verkauf von Postkarten oder um die Bereitstellung von Wolldecken -, die auch juristisch ausgetragen werden. Bruce endet dieses Engagement 1900 per Telegramm an Urbach: „Spiele ab heute Nachmittag 3 Uhr auf eigene Rechnung.“.
Rea Brändle zeichnet dann den weiteren Weg des „Direktors“ Nayo Bruce nach, wie er mit verschiedenen Gruppen durch Europa reiste, begleitet von seinen Frauen, wie er seine in Europa geborenen Kinder von Paten aufziehen lässt – aber nie zur Adoption freigibt. Und wie er schließlich 1916 in Russland stirbt.
Im weiteren Verlauf des Buches verfolgt Rea Brändle die Stationen der Kinder von Bruce in Frankreich, Baku, Baden-Baden, der DDR und Westafrika.
Im Übersichtsteil liefert Brändle eine Zusammenstellung von 222 (!) Stationen der Europareise des J. C. Nayo Bruce und seiner Familie.
Bewertung
‚Nayo Bruce‘ von Rea Brändle war ein Meilenstein zum Thema Völkerschauen. Es gelang ihr in sehr gut lesbarer Sprache, Teilnehmer an Völkerschauen zu individualisieren und ihnen eine eigenen Willen zuzugestehen, sie zu Handelnden zu machen - einen ähnliche Ansatz verfolgt seit Jahren Hilke Thode-Arora, die Provenienzforscherin des Museums Fünf Kontinente.
Dabei zeigte die Autorin natürlich im Text die menschenverachtenden Begleiterscheinungen von Rassismus, Diskriminierung oder Kolonialismus auf, aber sie zwang dazu, genauer hinzuschauen: Dass eben auch ein Mann aus Togo sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland als Unternehmer durchsetzen konnte, auch vor Gericht. Dass Teilnehmer an den Völkerschauen z.T. 'Macht' hatten und Interessen durchsetzen konnten. Was Hilke Thode-Arora in einem Interview in der Kunst und Auktionen zu Kolonialgeschichte gesagt hat, das gilt wohl auch für Völkerschauen: Es gibt keine einfache Täter-Oper-Hierarchie, sondern eine Verflechtungsgeschichte. Es kommt also auf den Einzelfall an. Dass schwarze Menschen nicht nur diskriminiert wurden, sondern auch Rückhalt in der Bevölkerung und Freundschaften fanden – wobei auch eine Rolle gespielt hat, das Bruce und seine Familie durch ihre Herkunft aus einer deutschen Kolonie ebenfalls als Deutsche galten. Und eben: Dass die Teilnehmenden an den Völkerschauen Menschen mit eigener Geschichte und Biografie waren, die zum Teil freiwillig an den Ausstellungen mitmachten – eben weil sie sich davon etwas für sich erhofften. Auf die Motive der Teilnehmer an den Völkerschauen wird in der heutigen Rezeption immer noch zu wenig eingegangen.
Rea Brändle - Nayo Bruce-Geschichte einer afrikanischen Familie in Europa
256 Seiten, 2007, Verlag Chronos
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Vielen Dank an den Chronos Verlag für das Rezensionsexemplar