Der tansanische Schriftsteller Abdulrazak Gurnah, der 2021 den Literatur-Nobelpreis gewann, wurde 1948 in Sansibar geboren. Er kam als Flüchtlingskind 1968 nach Großbritannien, promovierte an der Universität von Kent und lehrte dort als Professor für Englisch und postkoloniale Literaturen. In seinen Romanen geht es häufig um die Suche nach Identität. Bis zur Verleihung des Nobel-Preises erschienen nur wenige Romane auf Deutsch, darunter ‚Schwarz auf Weiß‘ aus dem Jahr 1968.
Sein jüngster Roman Nachtleben stammt aus dem Jahr 2020 und liegt nun in einer deutschen Übersetzung von Eva Bonné vor.
Inhalt
Gurnah berichtet in seinen Roman von 4 Protagonisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts im heutigen Tansania:
- Khalifa, der als Buchhalter arbeitet.
- Sein Freund Ilyas, der schon früh mit Deutschen in Berührung kam und sie sehr schätzt – und sich später als Askari den deutschen ‚Schutztruppen‘ anschließen wird und dann (aus der Handlung) geradezu verschwindet.
- Iliyas‘ Schwester Afiya, die nach dem Tod ihrer Eltern als Kind von Verwandten als Sklavin, als billige Arbeitskraft gehalten wird. Sie wird von ihrem Bruder und Khalifa ‚gerettet‘ und in Khalifas Haushalt Achtung erleben.
- Schließlich Hamza, der als Askari gedient hat und in die Stadt seiner Kindheit zurückkommt, ohne dort Vertrautes zu entdecken.
Die Wege dieser Menschen kreuzen sich in einer Kleinstadt in ‚Deutsch-Ostafrika‘. Gurnah schreibt, wie sie versuchen, in der Stadt ihr persönliches Glück zu finden und entwirft ein Kaleidoskop des Lebens am Ende der deutschen Kolonialzeit und darüber hinaus.
Bewertung
Nachleben lässt sich am besten dadurch beschreiben, dass man man den Roman mit ‚Morenga‘ von Uwe Timm vergleicht, dem anti-kolonialen deutschen Literatur-Monolithen aus dem Jahr 1978. Denn Gurnahs Roman erscheint geradezu als das Gegenteil davon:
- Morenga bericht von dem Geschehen in ‚Deutsch-Südwestafrika‘ aus der Sicht eines deutschen Oberveterinärs und es geht zumeist um die deutschen Truppen. Afrikaner erscheinen wie die Zuschauer vor einer Theaterbühne, die dem deutschen Treiben erstaunt und manchmal sogar amüsiert zuschauen. Sie bleiben einem in Morenga fremd. Es ist ein Deutsch-zentristisches Werk, gerade weil es auf die Kritik am deutschen Kolonialismus fokusiert.
Dagegen geht es in Nachleben um das Leben, Denken und Fühlen von Afrikanern. Es kommt ohne Eurozentrismus aus.
In die gleiche Richtung: Die Protagonisten von Nachtleben sind eigenständig Handelnde, die versuchen sich im Leben zurecht zu finden – und keine Opferklischees oder Zuschauer der Handlung. - In Morenga sind Deutsche, mit Ausnahme des zerrissenen Protagonisten, häufig überlebensgroße Karikaturen.
Die Motive der Deutschen in Nachtleben sind nicht immer klar, aber: sie werden zum Teil erstaunlich menschlich dargestellt – sei es ein Missionarsehepaar, bei dem Illyas unterkommt, oder auch sein Offizier bei den Truppen. - In Timms Roman ist der Kolonialismus omnipräsent und der Reason Why für das Buch.
Bei Gurnah ist der koloniale Hintergrund vorhanden, aber er dominiert nicht das Verhalten. Die Suche nach dem persönlichen Glück und der eignen Identität und des lebbaren Lebens könnte genauso im Afrika von heute handeln. - Dies bedeutet nicht, dass Gurenah nicht auf Verbrechen und Kriege der Kolonialmacht eingehen würde. Aber sie beeinflussen halt das Leben derjenigen, die nicht als Kämpfender oder Verfolgter direkt betroffen waren, nur indirekt. Auch in der Kolonialzeit gab es ‚normales‘ Leben. Ich würde diesen Ansatz entkolonialisiert nennen.
- Die Handlung könnte ebenfalls kaum unterschiedlicher sein: Bei Timm gibt es überlebensgroße Storys, die man in ihrer Eindrücklichkeit nie wieder vergisst: Wie beispielsweise der Händler Klügge, versucht, mit Branntwein im „größten Faß, das jemals durch die Steppen und Wüsten des südlichen Afrikas geschleppt worden war“, sein Glück zu machen.
Bei Gurenah geht es aber eben um das ganz normale Leben, wobei ich manchmal sogar an eine realistische Soap Opera erinnert wurde.
Als Ausnahme erscheint die Odysee des Illyas bei den Schutztruppen, die vom Leben der Askari und ihrem Wunsch nach Karriere und Anerkennung erzählt – aber auch von der Gewalt innerhalb der ‚Schutztruppe‘ und dem Grauen, das sie dort erfahren - Deutlich unterschiedlich ist schließlich der literarische Stil: Uwe Timms Roman war anekdotenhaft, eine Montage unterschiedlicher Elemente, mal laut-lustig, dann deprimierend, kurz: prototypisch für ‚große‘ deutsche Literatur der 1970er Jahre. Wobei der der Stil manchmal wichtiger erschien als der Inhalt
Gurnah scheibt dagegen einfach, nüchtern, fast deskriptiv. Nie wird der Inhalt von der Form dominiert.
Nachleben von Abdulrazak Gurnah ist ein Roman, der zeigt, wie Kolonialismus in der Literatur überwunden werden kann: Indem er weder verleugnet, aber auch nicht zu dem alles beherrschenden Überthema hochstilisiert wird. Selbst in der kolonialen Zeit konnten Menschen in einer ostafrikanischen Stadt leben, lachen, weinen und sich verlieben, kurz: leben.
Aber ist es ein großer Roman? Dafür ist er für mich etwa zu unspektakulär, da bin ich eher bei dem Literaturmonster Morenga.
Nachleben, Roman von Abdulrazak Gurnah
384 Seiten, 2022 | Deutsche Erstausgabe, Penguin (Verlag)
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Vielen Dank an den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar