'Der gesammelte Joest' von Anne Haeming - Rezension von Ingo Barlovic

Die Kulturjournalistin Anne Haeming hat 2023 im Rahmen des Joest-Forschungsprojektes für das Rautenstrauch-Joest-Museums das Buch ‚Der gesammelte Joest – Biografie eines Ethnologen‘ veröffentlicht. Sie beschreibt darin das Leben des deutschen Ethnologen Wilhelm Joest, der im November 1896 auf einem Schiff bei den Banks-Inseln (Vanuatu) gestorben ist. Joest vermachte seinen Nachlass seiner Schwester Adele Rautenstrauch. Dieser wurde zum Grundstock des Rautenstrauch-Joest-Museums in Köln.

Inhalt

Anne Haeming hat keine ‚normale‘ Biografie geschrieben, die sich durch das Leben eines Porträtierten chronologisch durchhangelt. Sondern sie versucht den Menschen Joest mit Hilfe von Objekten, die er besaß, und anhand seiner umfangreichen Tagebücher, zu ergründen. Dies gibt Zeitsprünge, Diskontinuitäten, der Erzählstil ist eine Art gemäßigter Christopher Nolan. Im Klappentext steht dazu, es sei eine "Biografie im Spiegel seiner Objekte, (…) eine Collage…“

Mit Hilfe diese Vorgehensweise gelingt es der Autorin, durch die Auswahl von Objekten und der dahinterstehenden Geschichten, Wilhelm Joest in all seiner Ambivalenz wiederzugeben: Er erscheint als jemand, der einerseits seiner Zeit voraus, andererseits aber auch ein Kind dieser Zeit war.

So ist ein Wesenszug von Joest, Etabliertes in Frage zu stellen – ohne aber die Etablierten anzugreifen oder bloßzustellen. Er bleibt immer diplomatisch. Schließlich will er auch zu den Etablierten gehören.

In einem starken Kapitel geht es um eine Mutter-Kind Figur aus dem Loangogebiet im Kongo. Joest schreibt dazu: "Soll man einen Neger, der solche Figuren mit mangelhaften Werkzeugen aus sprödem Material herzustellen verstand und der in die kleine Gruppe soviel „Stimmung“ hineinzubringen wusste, nicht einen Künstler nennen?" Damit (und durch andere Gedanken) greift er die damals vorherrschende Zweiteilung in „Naturvölker“ und Kulturvölker“ an und ist dem (wissenschaftlichen) Zeitgeist um einige Jahre voraus.

Die Progressivität von Joest zeigt sich besonders im Kapitel ‚Körper‘: Joest hat eine vielbeachtete Abhandlung über Tattoos publiziert und sich in Japan auch welche stechen lassen. Zum Zweck von Tattoos schreibt er: „Eitelkeit ist die Mutter der Körperbemalung, ihr Zweck war und ist ein kosmetischer“. Solche Aussagen sind geprägt von einem radikalen Subjektivismus, er ist eben nicht mehr der scheinbare objektiv Beobachter des Verhaltens seiner Forschungssubjekte. Er „rückt seinen eigenen Körper (und seine Empfindungen) in das Zentrum der Recherche.“

Noch weiter geht Joest in dem Kapitel über japanische ‚Klingelkugeln‘. Er hat sie von japanischen Prostituierten erworben, die sie in ihrer Vagina tragen. Da er sie auch im Gebrauch gesehen hat, sind sie auch mit seinem eigenen Sexualleben verbunden. Joest macht damit „sein Sexualeben zum Forschungsgegenstand.“ Nur folgerichtig zeigt sein Tattoo eine japanische Geliebte, mit der er länger zusammen war.

Am Ende des Buches entwickelt sich Joest zu einem teilnehmenden Beobachter – und nimmt auch hier wissenschaftliche Entwicklungen vorweg.

Joest thematisiert sein Sexualleben häufig in den Tagebüchern. Dabei zeigt sich deutlich, dass er auch ein Kind seiner Zeit war. Er kommt ganz als der reiche koloniale Mann rüber, der sich nimmt, „was und wen er braucht, wann und wie oft er will.“

Haeming verschweigt auch nicht, dass Joest ein Anhänger von Rassentheorien war. Oder dass er Schädel vor Ort mitgenommen bzw. wohl auch geraubt hat.

Und sein Privatleben? Seine Frau hat sich vom ihm scheiden lassen, weil er sie geschlagen hat. Tatsächlich hat er „seine Gewalttätigkeiten“ in seinen Tagebüchern notiert. Und er war dem Alkohol nicht abgeneigt.

Stil

Anne Haeming kann schreiben! Jedoch stellt sich die Frage, ob jeder ihren Stil mag. Sie schreibt häufig kurze Sätze, vermeidet Schachtelungen, verzichtet teilweise auf Prädikate, wiederholt Worte oder Inhalte. Ein Stil, der nicht emotionalisiert, sondern beobachtet.

Ein Beispiel dafür (S. 244): „Schreibtischstuhl, Veranda, Feld: Das ist der Dreisatz der Ethnologie. Eine Evolution der Methoden. Auf Santa Cruz ist Joest unterwegs von der Veranda ins Feld, sitzt manchmal an „Meinem Schreibtisch“. Sein subjektiver Blick durchzieht alles: Es ist immer seine Perspektive, ganz zweifellos“.

Sehr interessant empfinde ich, wie mit Wörtern umgegangen wird, die aus heutiger Sicht heikel sind, wie „Neger“, aber auch „Sklave“ oder „Volk“. Bei Anne Haeming sind die Worte durchgestrichen, man kann sie aber lesen. Dazu hat sie mir geschrieben: „Die Durchstreichungen (…) zielen in erster Linie darauf, aufgeladenes Vokabular nicht stillschweigend zu reproduzieren, wir orientieren uns dabei in erster Linie wie (im Buch) erwähnt an Susan Arndt.“ Warum ist ‚Volk‘ durchgestrichen? „„Volk" hier (nicht politisch „demos") wie „Stamm" als homogene Gruppendefinition via Blut-Abstammung“, so die Autorin in Ihrer Email.

Dies ist m. E. eine etwas zweispätige Vorgehensweise: Durch die Durchstreichungen gewinnen in meinen Augen diese Worte an Bedeutung, da sie im Text hervorgehoben werden. Andererseits sind die Durchstreichungen mir lieber als neuzeitliche Umschreibungen oder die Nutzung von Sternchen o.ä.. Es ist sicherlich die ‚einfachste‘ Möglichkeit, alte Texte auch heute im Original zu publizieren.

Bewertung

Ein Buch kann nie alle glücklich machen: Ich hätte mir beispielsweise gewünscht, dass die Autorin bei manchen Objekten einen größeren Fokus auf deren indigene Verwendung gelegt hätte. Ich verstehe, dass es vor allem darum geht, was die ‚Artefakte‘ über Joest erzählen. Dennoch fand ich es etwas schade, dass man beispielsweise bei einem Bambusrohr nur erfährt, wofür es wohl nicht genutzt wurde.

Dazu ist die Autorin eine Beobachterin, nicht aber allwissend, teilnehmend oder gar emotionalisierend. Joest bleibt einem immer ein wenig fremd. So war er in Kontakt mit wichtigen Playern der Ethnoszene wie Bastian oder Virchow. Man hat sich besucht, miteinander getrunken, fand sich gut. Welche emotionale Beziehung diese Menschen zueinander hatten, dies lässt sich trotzdem irgendwie nicht nachspüren. Und auch das Verhältnis von Joest zu seiner Frau wird kaum thematisiert. Fast beiläufig wird von der Gewalt in der Ehe berichtet.

„Der gesammelte Joest“ ist damit kein Buch, das einen dazu bringen will, mit Joest mitzufiebern, sich für ihn zu begeistern oder ihn zu verachten. Dafür bietet es aber umso mehr: Anne Haeming konstruiert sich eben in ihrem sorgfältigen recherchierten Buch nicht ihren Joest, er ist weder Lichtgestalt noch Hass-Objekt. Sondern sie zeigt ihn in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Ambivalenz als Mensch - und als Forscher. Dies kann man in der heutigen Zeit, in der auch in der Wissenschaft das Schwarz-Weiß-Denken immer mehr zunimmt, nicht genug loben.
(Damit unterscheidet sie sich beispielsweise deutlich von Anette Hoffmann, die in ihrem Buch ‚Kolonialgeschichte hören' über Rudolf Pöch vor lauter Abneigung gegenüber ihrem Protagonisten - und aufgrund des geradezu unlesbaren Stils - aus einer spannenden Forschung etwas Ungenießbares gemacht hat.)

Bleibt die Frage, wie ich den Schreibstil von Anne Haeming fand. Sehr gelungen! Genauso wie das ganze Buch.

Der gesammelte Joest – Biografie eines Ethnologe von Anne Haeming

2023 erschienen im Verlag Matthes & Seitz. 303 Seiten

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Zum Thalia-Link zu Der gesammelte Joest

Vielen Dank an den Verlag Matthes & Seitz für das Rezensionsexemplar

Autor

  • Ingo Barlovic

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  • Quellen-Nennung: 'Der gesammelte Joest' von Anne Haeming - Rezension von Ingo Barlovic; Ingo Barlovic; 2023; https://www.about-africa.de/buch-publikation-internet/1586-der-gesammelte-joest-von-anne-haeming-rezension-von-ingo-barlovic
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