Der in Boston lehrende deutsche Wissenschaftler Peter Probst geht in seinem Buch ‚Was ist afrikanische Kunst? Eine kurze Geschichte‘ der Frage nach, wie afrikanische Kunst vor allem im Westen, aber auch in Afrika selbst rezipiert wird.
Inhalt
Probst beginnt seine Reise im ersten Teil mit der Kolonialzeit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Zunächst wurden Artefakte vor allem für ethnologische Museen gesammelt. Es gab einen ‚Wettlauf um Afrika‘ und seine Objekte, um neue Entwicklungen in der Forschung voranzutreiben. Die Wissenschaft hatte unter anderem die Aufgabe, die Artefakte und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen zu retten, bevor sie in Afrika (durch den Einzug der ‚Moderne‘) verschwinden würden. Dabei passte sich die lokale Produktion oft dem westlichen Geschmack an. So waren z.B. die ältesten Byeri der Fang wohl einfache Köpfe auf einem Stil, im Laufe der Zeit wurden aber auch große Figuren „getrennt vom Ahnenfass“ hergestellt.
Auch wenn der westliche Geschmack eine Rolle spielte, ging es den Wissenschaftlern in erster Linie um Glauben und Funktion und nicht um Kunst oder Ästhetik. Um einen Einblick in die Entwicklung von Kunst und Kultur zu gewinnen, war die Untersuchung von Ornamenten eine prominente Methode. Zwar gab es damals intensive Debatten über ‚Weltkunst‘, doch Afrika wurde dabei ausgeblendet. Das änderte sich unter anderem durch Felix von Luschan, der sich für die Kunst aus Benin einsetzte. Er betrachtete sie als Kunst afrikanischen Ursprungs und löste damit eine heftige Debatte aus. Britische Historiker waren zum Teil der Meinung, dass die Darstellung von Portugiesen beweise, dass die Werke aus Portugal stammten. Trotz Rassismus, Gewalt und Rivalität zwischen den Kolonialmächten nahm der Begriff ‚afrikanische Kunst‘ langsam Gestalt an.
In den Jahrzehnten nach 1900 veränderte sich die Rezeption afrikanischer Kunst erheblich. Sie wurde als wichtiger Einfluss auf die Werke der westlichen Moderne wahrgenommen. Die „abscheulichen“ Werke wurden zum „Keim des Lebens“. Dies kumulierte 1936 in der Ausstellung ‚Cubism and Abstract Art‘ im New Yorker MoMA. Und bereits ein Jahr zuvor war an gleicher Stelle die afrikanische Kunst mit ihrer kühnen Formensprache in der Ausstellung ‚African Negro Art‘ gefeiert worden. Aus ‚primitiv‘ wurde ‚Primitivismus‘, ein „direkter Zugang zu den Quellen der Kreativität“. Dieser fand seinen Niederschlag unter anderem in den Fotografien von Man Ray, die die Formen dieser Kunst feierten. Gleichzeitig gewannen die Werke an Wert.9i
Diese Sichtweise und die Ausstellungen waren von weißen Protagonisten geprägt, schwarze Autoren wurden zumeist ignoriert. Eine Gegenbewegung bildete ab 1935 die unter anderem von Lèopold Senghor gegründete Zeitschrift L’etudiant noir. Für sie wurde Kunst zunehmend zu einem politischen Mittel. Stichworte waren Panafrikanismus und Harlem Renaissance. Schwarze Aktivisten in Europa kamen zunehmend mit solchen aus den USA in Kontakt.
Der zweite Teil des Buches beginnt mit der Entdeckung des afrikanischen Künstlers. Kontext war das Ende des Kolonialismus und die Ära des Kalten Krieges. ‚Primitiv‚ wurde zu ‘traditionell‘: Die Moderne wurde als Notwendigkeit gesehen und nicht mehr als „Virus“, der “primitive Gesellschaften zum Aussterben brachte. Gleichzeitig wurden die Mitglieder afrikanischer Gesellschaften aus westlicher Sicht nicht mehr als gesichtslose Wesen, sondern als konkrete Individuen wahrgenommen, die die Gesellschaft vorantrieben. Moderne Kunst hingegen wurde bis in die 1990er Jahre noch vernachlässigt.
Ein weiterer Meilenstein waren die Forschungen von Herbert Cole, der die performative Kunst in den Vordergrund rückte, weg vom Objekt.
Wichtig für die akademische Forschung wurde die Zeitschrift African Arts, die traditionelle und zeitgenössische Künste einschließlich der Literatur abdeckte. Für diesen umfassenden Kunstbegriff steht u.a. Ulli Beier, der als Schriftsteller, Kurator, Kritiker und Herausgeber großen Einfluss hatte.
Ebenso bedeutsam: Das Feld der Auseinandersetzung mit afrikanischer Kunst weitete sich von Afrika auf Amerika aus, also auch auf die Kunst der ehemaligen Sklaven in den USA oder in Haiti. Auch diese Entwicklung verdankt sich dem gesellschaftlichen Kontext: „Es war die Zeit des Kalten Krieges und der Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung“.
Dabei räumt der Autor auch den Debatten in Afrika breiten Raum ein.
Im dritten Teil des Buches geht Probst auf die Postmoderne und damit auf die Infragestellung eines Kanons ein. Es gab eine ‚Krise der Repräsentation‘. Damit einher gehe ein wachsendes "postkoloniales" Bewusstsein, das in eine "postkoloniale Wende" münde. Dementsprechend wurden Ausstellungen wie die von Rubin kuratierte ‚Primitivism‘ im MoMA kritisiert.
Einflussreich für den Versuch einer postkolonialen Wende war der Kurator Okwui Enwezor, der unter anderem künstlerischer Leiter der documenta und des Hauses der Kunst in München war. Durch diese Entwicklungen verlagerte sich auch die „öffentliche Aufmerksamkeit“ von der traditionellen auf die zeitgenössische afrikanische Kunst.
Das Buch endet im vierten Teil in der Gegenwart und konzentriert sich auf die Dekolonisierung - des Kanons, des Lehrplans, des Museums oder auch durch Forderungen. Diese Bewegung ist jedoch sehr heterogen, so dass es keine einheitliche Antwort auf die Frage gibt, was Dekolonisierung eigentlich bedeutet. Auf jeden Fall scheint Dekolonialisierung radikaler und handlungsorientierter zu sein als Postkolonialismus.
Bewertung
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es geht in ‚Was ist afrikanische Kunst? Eine kurze Geschichte‘ von Peter Probst nicht darum, etwas über afrikanische Kunst zu erfahren, also über ihre Formensprache, ihre Künstler oder ihre rituelle Verwendung. Sondern es geht um die Rezeption ‚afrikanischer Kunst‘ in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, um die vielfältigen und miteinander verwobenen Diskurse, die es darüber gab und gibt, und um die Kontexte, in denen sie stattfindet. Der klassische Sammler ist also nicht die Zielgruppe.
Wer sich aber dafür interessiert, wie vielschichtig afrikanische Kunst seit 150 Jahren wahrgenommen wird, welche Entwicklungen, Debatten und Protagonisten existierten und wie sich die Rahmenbedingungen bis heute verändert haben, der kann sich mit Gewinn in dieses in weiten Teilen sehr gut lesbare Buch mit all seiner inhaltlichen Komplexität vertiefen.
Ingo Barlovic
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Was ist afrikanische Kunst? Eine kurze Geschichte von Peter Probst
337 S., 92 z.T. farb. Abb., Wallstein Verlag, erschienen 2024
Zum Thalia-Link zur gebundenen Ausgabe für 34 Euro
Vielen Dank an den Wallstein Verlag für das Rezensionsexemplar
 
 