Als ich dieses Thema auswählte, war mir durchaus klar, dass es keine “Stippvisite“ werden würde, vielmehr eine lange, aufregende Reise in die Mythologie werden müßte: Schließlich hatte ich mich bereits während meiner Zeit in Afrika mit dem Thema befaßt, da in Nigeria, mit den ersten “eigenen“ Zwillingsfiguren in meinen Händen, und später merkwürdige Verbindungen zu letztlich Sumer entdeckt. Doch, der Reihe nach.
Wenn man in die einschlägige Literatur schaut, dann wird einem schnell klar, dass wir es beim Zwillingskult mit einem der ältesten Kulte der Menschheit überhaupt zu tun haben. Zwillingskulte hat es praktisch rund um den Erdball gegeben, hier Verehrung, dort Vernichtung, aber die sicherlich schönsten Denkprozesse zu diesem Thema waren wohl im indo-germanischen Raum angestellt worden; sie fanden in den griechischen und römischen Dichtwerken ihre Vollendung. Doch sei Osiris nicht vergessen, die höchste Gottheit des historischen Ägyptens, Zwillingsbruder von Isis, und bereits im Mutterschoß ihr Gatte. In Indien sind es Yama und Yami. Und noch einmal Indien, wo die Asvins, himmlische Zwillingsbrüder, auf Rossen geflogen kommen, um die Sonnentochter zu befreien. In China werden die “Genien von Einheit und Harmonie“ verehrt, und möglicherweise kann auch die Doktrin von den zwei universalen Prinzipien, das männliche und das weibliche, mit dem Zwillingskult in Verbindung gebracht werden. In der Bibel lesen wir von Kain und Abel und von Esau und Jacob in Vertretung der gegensätzlichen Prinzipien Gut und Böse. In den germanischen Sagen sind es Baldur und Hödur. Nochmal zu den Sagen des klassischen Altertums: von Apollo und Artemis, Kastor und Polydeukes, Romulus und Remus – überbegrifflich bekannt als Dioskuren. Am ergreifendsten, wie ich meine, ist dabei wohl die Sage um Kastor und Polydeukes (auch: Pollux), wo ja bekanntlich der göttliche Bruder Polydeukes den nichtgöttlichen Kastor nach dessen Tod auf den Olymp holt und dann abwechselnd mit ihm einen Tag auf dem Olymp, einen in der Unterwelt verbringt. Kennen wir dies – prinzipiell – nicht schon aus dem sumerischen Mythos Inannas Gang in die Unterwelt? Als sie ihren erschlagenen Gatten von dort wieder ins Leben zurückholt? Also die mythische Verarbeitung der wachsenden und der ruhenden Jahreszeiten, die Wiedergeburt der Natur? Biblisch gewandelt ins Osterfest, die Auferstehung. Es fallen aber wohl auch die Gegensatzprinzipien Tag-Nacht, Sonne-Mond, Leben-Tod hierunter. Hier liegt eine Vermischung von unterschiedlichen Mythen zu vom Menschen erkannten Gegensätzen vor, die aber untrennbar miteinander verbunden sind und in Dichtwerken verarbeitet für ihn begreifbarer wurden.
Versuchen wir, uns in die graue Vorzeit zurückzuversetzen. Der primitive Mensch eroberte Schritt für Schritt seine Umwelt, stieß aber immer wieder auf Phänomene, die er nur mit Hilfe von unsichtbaren, überlegenen Wesen erklären konnte, den zunächst Geistern, später Gottheiten.
Ein solches Phänomen war ohne Zweifel die Zwillingsgeburt. Der frühe Mensch lebte in Polygamie. Er erkannte auf empirische Weise, dass trotz mehrfacher Begattung die Frau nur ein Kind gebar; bis auf die wenigen Ausnahmen der Zwillingsgeburt. Hier dürfte der menschliche Forschungsdrang eingesetzt haben, und ich kann mir durchaus vorstellen, daß vorzeitliche “Experimente“ begannen, um festzustellen, ob zwei Männer bei einer Frau Zwillinge zeugen konnten.
Natürlich nicht! Wenn dann hin und wieder doch Zwillinge zur Welt kamen, dürfte der Gedankenschluss hin zur Geisterwelt nahegelegen haben: Hier mußte neben dem (einen) Mann ein nicht nur unsichtbares, sondern auch mächtiges, höheres Wesen der Frau beigewohnt haben! Je nach Örtlichkeit und Haupternährungsart zeigten sich diese Geister als Tiere des Wassers oder des Waldes: Hatten sie nicht Mehrfachgeburten? Das Ertrinken von Frauen oder ihr jähes Ende in den Fängen von Löwe, Tiger oder Wolf könnten als Ausdruck der Liebe dieser Geister gewertet worden sein, die die schöne Sterbliche zu sich geholt hatten.
In der Zwillingsgeburt drückte sich dagegen der Flirt, der Seitensprung eines Geistes aus. Nur er kann es, nach damaligem Wissensstand, gewesen sein. Logisch also die Freude über die Zuneigung aus der Welt der Übermächtigen, die sich durch diesen Akt quasi mit den Sterblichen verschwägert hatten. Logisch die Reaktion der Außenstehenden, die in der Verehrung der Zwillinge, aber auch von Mutter und Vater – sei es aus Neid oder aus Furcht – versuchten, ein wenig der Geisterwelt näher zu kommen, zumindest ihr Wohlwollen zu erlangen. Logisch wohl auch, dass der frühe Mensch Zwillinge und Fruchtbarkeit bald in Zusammenhang brachte, so dass sich in späterer Zeit entwickelnde Mythen dann einen Fruchtbarkeitsgott als ursächlich verehrten.
Hieraus entwickelten sich zahlreiche Kulte, die z.T. noch heute bei Naturvölkern praktiziert werden. So hatten Zwillinge die Macht, Fischreichtum zu bescheren, reiche Jagdbeute, oder Regen für die Felder: Schließlich sind sie ja halbgöttlich, deren göttlicher Vater ihrer Menschenmutter zu ungewöhnlicher Fruchtbarkeit verholfen hatte. Im indo-europäischen Raum ist es der zweite, der jüngere Zwilling, der von einer Gottheit gezeugt wurde, während der ältere vom sterblichen Vater abstammte: Kastor und Polydeukes. Bei den später näher zu betrachtenden Yoruba, vermutlich durch nahöstlich-mittelmeerischen Einfluss, der dann verblasste – denken wir bitte daran, dass Schwarzafrika keine Schriftsprachen kannte! – ist der Zweitgeborene zwar nicht mehr allein halbgöttlich, sondern dies sind beide, aber er ist – der ältere! Der ältere, der seinem jüngeren Geschwister behilflich war, den so schwierigen Gang in die Welt zu schaffen.
Ich glaube, dass erst in viel späterer Zeit, als der Mensch sich schon eine gewisse soziale Ordnung geschaffen hatte, die andere Form des Zwillingskults entstand: die Verachtung der Mutter und der Zwillinge, Verachtung bis hin zu Vertreibung oder Tötung. Quasi eine Rückentwicklung. Aufgrund monogamer, zumindest “geordneter“ polygamer Verhältnisse, und damit des Verlustes der zuvor beschriebenen empirischen Erfahrung, erkannte der Mensch nur noch eine Lösung: die der Untreue der Frau! Ergo Verachtung, Vertreibung, Tod. Obwohl keineswegs selten, war diese Form des Zwillingskults weniger verbreitet, mag sogar noch irgendwo praktiziert werden.
Zurück zur Zwillingsverehrung, die nicht nur bei kontemporären Naturvölkern, sondern ja auch bei uns gepflegt wird. Vergessen wir bitte nicht das bescheidene Überbleibsel einstiger Ehrfurcht, das sich bei uns in der identischen Kleidung ausdrückt: Wiederholung der Identität der eineiigen Zwillinge. Dabei war der Zwillingskult gerade in unserem Raum einst tief verwurzelt! Hier, bei Ackerbauern und Viehzüchtern, war es der Blitz- und Donnergott, der Wettermacher und Regenspender, der für die außergewöhnliche Fruchtbarkeit verantwortlich war, dargebracht in der Zwillingsgeburt. Im alten aber schon christlichen England pflegte man in solchen Fällen über die Zwillingsmutter zu sagen: „She has had Martin’s hammer knocking at her wicket!“ – St. Martin hat mit seinem Hammer an ihre Pforte geklopft!, also einen Seitensprung gemacht. St. Martin, der christliche Ersatz für Thor/Donar. (Thors Hammer, übrigens, und abgesehen von seiner möglicherweise auch phallischen Bedeutung, sein Streithammer, die spätere Streitaxt, war bekanntlich mit zwei Enden oder dann Klingen ausgestattet: eine Form, die wir beim Donner- und Zwillingsgott sango der Yoruba wiederfinden, die jedoch nie eine derartige Waffe hatten!) Jedenfalls hatte sich dieser einst heidnische Glaube bis ins 19. Jahrhundert in ländlichen Gebieten Englands gehalten.
Neuere Literatur über den Zwillingskult bei afrikanischen Völkern ist offenbar nicht existent, jedenfalls konnte ich keine Abhandlungen finden. Die mir zugänglichen Abhandlungen aus den ersten 25 Jahren des vorigen Jahrhunderts, verglichen mit dem bisschen an eigener Erfahrung, muten doch häufig übertrieben oder schlicht falsch verstanden an, zumal man sich u.a. auf Berichte aus viktorianischer Zeit bezieht, die zwar die Erkundung des Schwarzen Erdteils mit großer Begeisterung und Eifer betrieben hatte, aber eben nicht selten auch mit Übereifer.
Trotzdem mag uns der Bericht des Missionars Dannert, nachzulesen bei Leo Sternberg, Aufschluss darüber geben, wie einst möglicherweise ebenfalls bei den Yoruba die Kultzeremonie vor sich ging; hier wird allerdings der Brauch bei den Ovaherero (im heutigen Namibia) beschrieben: „Von dem Moment an, wo klar wird, dass es sich um eine Zwillingsgeburt handeln wird, verlassen alle Frauen das Haus der Kreißenden bis auf zwei. Sind die Zwillinge dann geboren, so verkündet eine der beiden Ammen die glückliche Geburt, jedoch nicht dem glücklichen Vater direkt oder sonst einem Menschen, sondern dem Geist, hier Veld angerufen; also der Fruchtbarkeitsgott, der auch den Regen für die bestellten Felder schickt. Natürlich hören Vater und Dorf auf diese Weise die Botschaft gleichermaßen, worauf sich der Vater mit zwei Begleitern wortlos aus dem Dorf begibt, um ein temporäres Quartier für die Zwillinge zu schaffen, wohin die Zwillingsmutter mit den Ammen folgt. Sprechen bzw. verkehren dürfen die Zwillingseltern nur mit den dort anwesenden zweimal zwei Betreuern. Nun müssen die Eltern schnellstens entkleidet werden, weil sonst der Tod über sie kommt. Denn nach Herero-Glauben werden sie als wesenverwandt mit der zoomorphen Gottheit gedacht und müssen als äußeres Symbol ihrer Vereinigung damit in Felle gekleidet werden.
Es beginnt die große Zeit der Zwillingseltern, ihre Verehrung und die der Zwillinge. Stumm wird ein Rind von den Dorfbewohnern gebracht, und sollte dies nicht prompt geschehen, so ruft der Vater aus: „Veld, Veld, wir haben Hunger!“ Auch steht dem Vater das Recht zu, aus vorbeiziehenden Herden ein Stück Vieh auszuwählen und zu schlachten. Selbst der ärgste Gegner kann dem nicht widersprechen, will er sich nicht mit der Gottheit anlegen. Ein weiterer Hinweis auf die Verbundenheit der Zwillinge und ihrer Eltern mit einer zoomorphen Gottheit ist sodann das Gebot, im temporären Heim nur Fleisch zu essen, das den Zwillingen symbolisch an die Zehen gehalten wird. Schließlich werden eiligst alle Stammesangehörige und alles Vieh zum Dorf gerufen. Erst wenn alle versammelt sind, dürfen die Zwillingseltern und ihre Zwillinge das temporäre Heim verlassen, um in ein neues, extra für sie errichtetes Heim einzuziehen. Wieder wird für sie ein Rind geschlachtet, von dem alle symbolisch kosten müssen. Der Vater zieht sodann, immer noch in seine Felle gehüllt, von Haus zu Haus, Dorf zu Dorf, bis er alle Stammesbrüder besucht und geweiht hat. Dabei werden ihm reichlich Geschenke zuteil, und da solche Reise bis zu einem Jahr dauern kann, kehrt er durchwegs wohlsituiert heim. Erst dann werden die Zwillinge “getauft“, also nach heidnischem Brauch, und die Zwillingseltern dürfen aus ihren Fellgewändern. Sie behalten jedoch ihre Sonderstellung. Der Vater wird Stellvertreter des Dorfhäuptlings, und stirbt er, dann wird der jüngere Zwilling, dort der göttliche, sein Nachfolger.“ Zitat Ende.
Ähnlich der Verkündigungsritus bei den Bambara / Bamana (im heutigen Mali), bei denen übrigens auch – wie bei den Yoruba – der zweitgeborene der ältere ist: Hinweis auf die gleiche ursprüngliche mythologische Quelle? Und: der Zwillingskult lehnte ebenfalls an den Fruchtbarkeitskult an. Zwillinge waren ein Geschenk des höchsten und mächtigsten Wesens, gla, doch wurde ihnen die direkte Verwandtschaft verweigert. Ihre Bezugsgottheit war faro, eine hochstehende, geschlechtsneutrale Wassergottheit, deren unmittelbare Abkommen sie waren. Folglich hatten Zwillinge, die die Bamana flani = zwei Seelen nennen, besondere Kräfte: Unverwundbarkeit, Weissagung, Weisheit. Die Gaben, die sie erhielten, waren leztlich Gaben für faro, der im Wasser lebte, gleich welcher Art: Wasser, wie überall, aber ganz besonders am Wüstenrand, war (und ist!) Lebensquell Nr. 1. Eine weitere Ähnlichkeit mit dem Fruchtbarkeitsbezug beim Zwillingskult der Yoruba, mit şango, dem Donner- / Regengott, oder – wohl weniger dem germanischen Donnergott Thor/Donar (dessen anderer Nachfolger, der Schmied vom schottischen Gretna Green, die Ehe, wie einst er, mit dem Hammer “schmiedet“) – eben der Bezug nach (rein ursprünglich!) Sumer: Dumuzi.
Im Animismus der Bamana war die Seele zweigeteilt: ni, die eigentliche Seele, und dya, ihr Double. Anders als bei den Germanen, wo Adebar des verstorbenen Ahns See-le (die Endung –le entlehnt sich ja aus dem germanischen ilo = zugehörig) im See quasi “zwischenparkte“, bis der an-ilo, der zum Ahn gehörende, der Enk-el geboren wurde, wurde bei den Bamana die Seele von irgendeinem kürzlich Verstorbenen direkt an einen Neugeborenen weitergereicht. Das Seelen-Double dya konnte sich, anders als ni, vom Lebenden lösen. Es zeigte sich als Schatten des Menschen oder dessen Spiegelbild im Wasser. Darum konnte dya auch völlig verschwinden, z.B. nachts oder an bewölkten Tagen. Andererseits, weil es den schützenden Körper verlassen konnte, war es anfällig für mißgünstige Zauberer und Böswillige.
Zwillinge, hingegen, waren von diesem unendlichen Kreislauf ausgeschlossen: Sie empfingen ihr ni und dya von faro selbst. Und, da sie ja Zwillinge waren, hatte jeder von ihnen sein ausserkörperliches dya im anderen Zwilling; sein dya konnte also nie direkt angegriffen werden! Ein sehr kompliziertes Konstrukt, ein Seelen-Mimikri, denn der Bösmeinende konnte ja nie das dya dessen treffen, dem er Böses wollte, und das “fremde“ dya, da ja gar nicht gemeint, war sozusagen immun. Zusätzlich waren die Zwillinge Abkommen vom Wassergott faro, so dass ihnen im Wasser auch nichts geschehen konnte: Hinweis auf die göttlich erteilte Treuhand Zwillinge, was die Mütter zu besonderer Achtsamkeit veranlaßte? Zwillinge folglich nie oder nur höchst selten ertranken, denn Kleinkinder ertrinken überall auf der Welt immer mal. Der Kult lehrte dialektisch, dass Zwillinge am Wasser “weniger“ gefährdet seien...
Aber – natürlich starben trotz all dieser wirklich oder vermeintlich besseren Voraussetzungen Zwillinge auch bei den Bamana. Dann ließ der Vater vom Dorfschmied eine hölzerne Figur anfertigen, die flanitokele genannt wurde = Zwilling, der verbleibt. Wie bei den Yoruba, entsprach dieses Seelengefäß dem Geschlecht des verstorbenen Zwillings; es führte sogar dessen Namen. Da die Seele nicht mehr im Körper ruhen konnte, mußte ein solches Behältnis geschaffen werden, denn schließlich waren die Zwillinge untrennbar. Und so war der Schatten des flanitokele auch immer noch das dya des lebenden Zwillings! Die Mutter achtete auf diese Figur, die stets in der Nähe des überlebenden Zwillings sein mußte, was in der Hütte kein Problem war. Doch wenn sie mit dem lebenden Zwilling ausging, mußte das flanitokele unter dem Gewand mitgeführt werden: Bei einer Größe von 25 bis 45 cm nicht gerade leicht oder bequem!
Hier zeigt sich ein weiterer komplizierter Gedankengang: Ein offenbar sehr mächtiger böser Zauber hatte einen doch immerhin gottnahen Zwilling getötet; es galt nun, den überlebenden ganz besonders zu schützen! Angreifbar war nur sein außerhalb des Körpers befindliches dya, das ja schließlich und trotz des Schutz meinenden Tausches der beiden dya, beim verstorbenen Zwilling verletzlich gewesen war! Folglich konnte es nun auch das dya des lebenden Zwillings treffen! Durch das Aufstellen des flanitokele in der dunklen Hütte bzw. durch sein Tragen unter dem Gewand war das dya des lebenden Zwillings, also sein Schatten, jedoch gar nicht zu sehen. Es hatte sich unerkannt und unbekannt weit entfernt und damit einem bösen Zauber vermeintlich entzogen!
Dieser Mythos bürdete einer Mutter schon einiges auf! Ihr Los wurde dadurch erleichtert, dass mit Initiation, also Geschlechtsreife, der lebende Zwilling die Sorge um das flanitokele übernehmen mußte. Starb auch dieser, jedenfalls vor seiner Heirat, so wurde eine zweite Figur geschnitzt, und die Sorge um beide Figuren fiel an die Eltern zurück. Nur – ab da mußten sie nicht mehr herumgeführt werden! Aber auch für den Überlebensfall war pragmatisch vorgesorgt: Die Zwillingsfigur verblieb beim lebenden Zwilling ab Circumcision bzw. Excision bis zur Heirat und stand neben dem Schlafplatz. Mit Heirat ging sie u.U. wieder an die Eltern zurück, um ab da ebenfalls immer in der Hütte zu verbleiben. Die junge Braut hätte vermutlich Probleme gehabt, ihren ehelichen Pflichten quasi unter Zeugen nachzukommen. Auf diese Ausdeutung von mir mag hindeuten, dass das flanitokele immer dann ins Elternhaus zurückkehrte, wenn der überlebende Zwilling männlich, die Braut mit der Seele im Seelengefäß nur “verschwägert“ war. Heiratete aber die Zwillingsschwester, ging das Figürchen mit ins neue Heim: Warum sollte sich die Schwester vor der Seele ihres Bruders / ihrer Schwester fürchten oder schämen, mit der sie über viele Jahre den Raum geteilt hatte? Und einem Mann wurde offenbar geringere Empfindlichkeit zugesprochen.
Bemerkenswert sodann, dass diese flanitokele in sehr unterschiedlichem Stil vorkommen, sowohl abstrahierend als auch naturalistisch, doch stets als menschliches Abbild zu erkennen. Darin unterscheiden sie sich von den Zwillingsfiguren der Yoruba, die sich nur in der Haartracht und den Gesichtsnarben des jeweiligen Stammes unterscheiden, im übrigen vergleichsweise naturalistisch sind. Gleich wie die Yoruba, stellten die Bambara ihre flanitokele immer stehend dar, nie sitzend, liegend, schreitend oder gar laufend! Der Grund dafür dürfte derselbe sein, der auch die christlichen Heiligenfiguren (zumeist) stehend wiedergibt: die würdevolle Ruhepose. Die Liegepose hat diese Ausstrahlung in der Rückenlage, in der Totenpose. Der bekannte, auf der Seite liegende Buddha, den Kopf auf dem angewinkelten Arm gebettet, drückt die (gewollte!) Gelöstheit aus, aber nicht Würde. Doch die Liegepose widerspräche der schwarzafrikanischen Vorstellung von der anwesenden, aktiven Seele.
Mit Heirat des überlebenden Zwillings mußte eine weitere Figur geschnitzt werden. Sie war grundsätzlich von anderem Geschlecht und hieß folgerichtig flanitokele tyie = Ehemann von flanitokele bzw. flanitokele mousso = Eheweib von flanitokele, je nach Geschlecht des ursprünglichen Seelengefäßes: Da die Schicksale der beiden Zwillinge untrennbar miteinander verbunden waren, mußte die Seele des verstorbenen Zwillings zum Zeitpunkt der Heirat auch einen Partner bekommen. Wäre dies nicht beachtet worden, Unheil würde dem lebenden Zwilling gewiß gewesen sein! Unnötig zu betonen, dass die zwei Figürchen wie Eheleute zusammen standen. Für den Sammler ist es im Nachhinein nicht möglich zu wissen, welche Figur ist das eigentliche flanitokele, welche der “Ehepartner“.
Mich, als Sammler schwarzafrikanischer Plastik, hatte nun nicht so sehr der Kult für den lebenden Zwilling angeregt, sondern die Verehrung des toten oder auch beider, für die die Yoruba z.T. sehr eindrucksvolle Figuren schnitzten. Diese Figuren sind bekannt unter der Kurzbezeichnung ibeji, eigentlich ere-ibeji. Ibeji heißt frei übersetzt: Zwillinge; es ist ein Zusammenziehen der Wörter ibi-meji oder auch ibi-omo-meji, zu deutsch: geboren zwei oder geboren Mensch zwei. Der erstgeborene hieß immer Taiwo, aus to-aiye-wo: der die Welt als erster sah, der zweitgeborene Kehinde, aus ko-ehin-de: der nach einem anderen kommt. Beide werden oft mit ejire angesprochen, was zwei Freunde heißt. Sie, wie auch ihre Mutter, yaa-ibeji (der Vater verlor mit baba-ibeji auch seinen früheren Namen) wurden ihr Leben lang verehrt, da ja göttlichem Seitensprung entstammend; aufgrund christlichen oder islamischen Einflusses aber nicht mehr annähernd so großzügig, wie wir dies über die Ovaherero erfahren haben.
Dennoch: Verehrung und Furcht gingen noch in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so weit, dass die Zwillingseltern ein Behältnis – Seelengefäß – für die Seele des toten Zwillings schnitzen ließen, damit sie darin einziehen möge. Wie üblich in der schwarzafrikanischen Kunst, stellte solch ein figürliches Seelengefäß nicht etwa ein Portrait dar! Das Figürchen nahm lediglich Rücksicht auf das Geschlecht des Zwillings, und solche Rücksicht war nicht unbedingt immer rücksichtsvoll, jedenfalls für unsere europäische Auffassung: Pralle Brüste sind hier jedoch nur Kennzeichnung des weiblichen Geschlechts und nicht etwa Hinweis auf ein Ableben im reifen oder mannbaren Alter!
Dieses Figürchen musste nun verehrt werden; anläßlich großer Feste wurde es behandelt wie der überlebende Zwilling. Es konnten also kleine Gewänder, meist aus Glasperlen, angefertigt und dem Figürchen umgehängt werden. Es wurde bei Schlachtzeremonien in den Blutstrahl von Widder oder Hahn gehalten. In manchen Gegenden wurden Speisen darüber gegossen, die zu den Festen eingenommen wurden. So entstand die sog. Opferpatina, die der Ethnologe bewundert, die aber dem sammelnden Ästheten den Blick auf die verzierenden Schnitzereien verwehrt. Dann wieder gab es Gegenden, wo diese Figürchen an, vermutlich mythischen, Waschungen teilnahmen, so dass im Laufe der Zeit das Gesicht unkenntlich wurde. Schließlich, um der lieben Vollständigkeit halber, gehörten Arm- und Fußreifen, Hals- und Bauchketten zur Ausschmückung und damit Verehrung der ibeji.
Sinn solcher Verehrung war nicht nur die Beschwichtigung der Seele des verstorbenen Zwillings, orisa-ibeji, und damit auch des ursächlichen Zwillingsgotts şango, also des Blitz- und Donnergotts, sondern auch der Wunsch, der Verstorbene möge wieder auf die Erde zurückkommen. So wird sogar berichtet, dass hin und wieder Körperteile des Verstorbenen verbrannt wurden oder nur herausgeschnitten wurden, damit man sie / ihn bei seiner Rückkehr zur Erde gleich wiedererkennen konnte. Ich vermute hier stark veränderte Überbleibsel aus frühägyptischen Totenriten, aber auch der oben erwähnten Wiedergeburt des Dumuzi oder des Kastor. Jedenfalls hätte eine Nichtbefolgung der Verehrung den Zorn von şango hervorgerufen, der dann den überlebenden Zwilling in seine Geisterwelt geholt haben würde. Es wurde folglich zu Lebzeiten, aber auch danach, dem şango periodisch geopfert, und die vorerwähnte Opferpatina könnte auch daher stammen.
Sehr merkwürdig ist, aber durchaus verständlich nach dem anfangs Gesagten, daß neben der Verbindung von şango und den Zwillingen, auch eine Meerkatzenart – edun dudu – mit den Zwillingen in Verbindung gebracht wurde, die folglich heilig war. Mir scheint, dass hier ein Rest des ursprünglichen, rein afrikanischen Kults erkennbar wird, der später von şango verdrängt worden ist: Die Affen mögen ein Hinweis auf die ursprünglich zoomorph verstandenen Geister sein, zumal bei einem Naturvolk, das im tropischen Regenwald lebte.
Sollte Ihr Weg Sie nach Nigeria führen, dann wird man Ihnen sicher vor den Hotels oder am Flughafen solche ibeji zum Kauf anbieten, angeblich “echte“, also kultisch verwendete. Nur sehr selten ist noch ein kultisches Stück darunter. Durchwegs sind es Nachahmungen für den Touristen, allein schon daran erkennbar, dass sie stets als Pärchen angeboten werden, eine weitere Verkennung des Zwillingskults. Deshalb ist aber ein Pärchen nicht unbedingt eine Fälschung, denn es kam natürlich vor, dass beide Zwillinge starben, auch zeitgleich, so dass für beide ein Seelengefäß geschnitzt werden mußte. Noch in den Siebzigern! In Ibadan lebte der durchaus bedeutende Künstler Fakeye. Er unterhielt eine große Werkstatt. Die groben Arbeiten, also Zusägen der Holzstücke, Schaffung der groben Umrisse etc. machten seine Schüler, die aber nicht mehr wie früher Geweihte waren. Der Meister zeichnete dazu Details auf das Holz, setzte sein Stecheisen jedoch erst in der letzten Phase selbst an. Sicher sehr sauber gearbeitete Stücke, für mein Empfinden zu exakt, ohne Ausdruck, “tot“. Es ist wohl doch ein großer Unterschied, ob man für den Blitzgott arbeitet oder für den schnöden Mammon.
Fotogalerie Galperin Zwillinge
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