Quelle: Lübeckische Blätter, Zeitschrift der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit, 173.Jahrgang, Heft 1, Seite 8-9
Autorin: Brigitte Templin MA. Studium der Indologie, Ethnologie, Literaturwissenschaft. Ausbildung als Buchhändlerin. Seit 1996 Leiterin der Völkerkundesammlung Lübeck. Kuratorin zahlreicher Ausstellungen.
Lübeck verfügt über eine ca. 30.000 Objekte umfassende Sammlung, die bedeutende, zum Teil einmalige, Zeugnisse der Kulturgeschichte der Menschheit enthält. Weit mehr als fünfhundert Bürgerinnen und Bürger aus Lübeck haben durch Schenkungen, auch durch von ihnen finanzierte Ankäufe, in drei Jahrhunderten eine Sammlung aus allen fünf Kontinenten aufgebaut, die nicht nur für einen kurzfristigen Erfolg in der Präsentation im alten Museum am Dom, sondern insbesondere auch für spätere Generationen ihrer Heimatstadt bestimmt war. Unter der Vielzahl der Schenkenden seien Dr. Avé-Lallement, Heinrich Brehmer, Konsul Behn, Bürgermeister Langenheim, Dr. Max Linde, Marineoffizier Boy-Ed, Georg Th. Hahn, Frau Stolterfoht und Lokomotivführer Voß stellvertretend für viele andere erwähnt. So unterschiedlich motiviert ihre Gaben im einzelnen auch gewesen sein mögen, der Stolz darauf, ihrer Heimatstadt Beweisstücke ihrer Tätigkeit in anderen Ländern bzw. ihren Verbindungen dorthin übereignet zu haben, hat sie sicherlich gleichermaßen erfüllt.
Kommt die Sammlung in den ersten zwei Jahrhunderten noch eher gelegentlich und zufällig zusammen, so bestimmt doch zwischen 1898 und 1921 eine zielgerichtete Erweiterung die Sammelpolitik. In dieser Zeit versucht man durch Aufrufe in Lübecker Zeitungen, gezielte Anfragen und Spezialaufträge auch Einfluss auf die Schenkungen zu gewinnen. Des weiteren hat es eine Reihe von eigenen Sammelreisen des Museums gegeben, drei nach Mittelasien (1903, 1905 1909), jeweils eine ins Baskenland (1897), nach Tunesien (1906), Ägypten (1913) und Estland (1918) sowie insbesondere die große zweijährige Lübecker Afrika-Expedition (1907-1909), um nur die wichtigsten zu nennen.
Diese Sammlung der Weltkultur, deren Bestände sich bis in die Gegenwart hinein kontinuierlich vermehrt haben, hat inzwischen mit geschätzten 60 Millionen EURO nicht nur einen erheblich finanziellen Wert, sondern insbesondere einen kulturellen, da die Sammlung neben vielen Zeugnissen der Alltagskultur Werke enthält, die inzwischen als Weltkunst anerkannt sind. In internationalen Fachkreisen ist es durchaus bekannt, dass sich in Lübeck bedeutende Zeugnisse aus so unter-schiedlichen Regionen wie der Südsee, Mittelasien und Afrika befinden, die den Aufstieg in den Olymp der anerkannten Weltkunst erreicht haben. Und nicht nur die Sammlung ist von Bedeutung; mit Veröffentlichungen in wissenschaftlichen und populären Schriften und musealen Präsentationen und Veranstaltungen hat das Museum für Völkerkunde zu Lübeck früh den Bildungsauftrag eines Museums ernst genommen und dazu beigetragen, dass sich die vorurteilsfreie Kunde von fernen Völkern in allen Kreisen der Gesellschaft verbreitet.
Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auf ein Objekt etwas ausführlicher eingegangen, das mit zu dem Kreis der wertvollsten der Lübecker Sammlung gehört. Es handelt sich dabei um eine hölzerne, fast einen Meter hohe Skulptur der Ethnie Fang aus Äquatorialguinea, die vom Lübecker Kaufmannssohn Günter Tessmann (1884-1969) im Rahmen der Lübecker Afrika-Expedition für das Museum für Völkerkunde seiner Heimatstadt gesammelt wurde. Diese Reliquiarfigur hat seit dem 2. Oktober 2007 bis zum 2. März 2008 einen prominenten Platz in der Ausstellung "Eternal Ancestors. The Art of the Central African Reliquary" im renommierten Metropolitan Museum of Art in New York. Dort sind 130 Meisterwerke aus dem Herzen des afrikanischen Regenwaldes vereint, die nicht nur die afrikanische, sondern auch die europäische Kunst nachhaltig beeinflusst haben. Neben Lübeck ist nur noch Berlin als deutscher Museumsleihgeber bei dieser bedeutenden Ausstellung vertreten. Sie bietet Einblicke in eine religiös motivierte Kunst, die als die Beste angesehen wird, die auf dem afrikanischen Kontinent jemals geschaffen wurde. Zu den Höhepunkten der Ausstellung werden die hölzernen Figuren aus den Werkstätten der Fang-Meisterschnitzer gezählt. Aufgrund ihrer perfekten Synthese aus Kontemplation und Dynamik sind sie hoch geschätzt, Sammler wiegen sie sozusagen mit Gold auf. Das hängt auch damit zusammen, dass Figuren und Masken der Fang selten erhalten geblieben sind. Bereits in den 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts existierten diese vor Ort so gut wie gar nicht mehr, da sie zerstört wurden, insbesondere auf Veranlassung von Missionaren, die erreichbare Kultobjekte öffentlich verbrennen oder in den Fluss haben werfen lassen.
Die Leihgabe aus Lübeck ist ein Unikat. Es handelt sich dabei um eine männliche Wächterfigur mit leicht beweglichen Armen und Beinen aus der Zeit um 1900, die eine bedeutende Rolle bei der Ahnenverehrung spielte. Sie zeichnet sich durch einen langen zylindrischen Körper, im Verhältnis zum Rumpf sehr kurzen Beinen und einen großen Kopf aus. Hervorstechend am überproportionierten Kopf mit dem runden Gesicht sind die wulstigen, geöffneten Lippen, ein Kinnbart, der ursprünglich üppiger war, ein durchbohrtes Nasenseptum mit Stab und große kreisrunde Blechaugen, bei denen die Pupille mit einem Nagel markiert ist. Am Hinterkopf ist ein trapezförmiger Schutz angebunden. Federn, von denen einige verlorengegangen sind, schmücken das Haupt.
Der Auftritt dieser niamodo (Erwachsener, Großer) genannten Skulptur vor Eingeweihten und Initianten über einem durch eine Grasmatte gebildeten Bühnenschirm gehörte zu den Feierlichkeiten der Ahnenverehrung der Fang. Der Glaube an die Existenz der Vorfahren nach dem Tode und ihre Beteiligung am Leben gegenwärtiger Generationen hat noch heute in weiten Teilen West- und Zentralafrikas einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Der Grund dafür ist in dem Bedürfnis nach Erhalt der Familie, des Klans oder der ethnischen Gruppe zu suchen und aus diesem Bedürfnis heraus wird das Übernatürliche angerufen. Die Lebenden versichern sich der Unterstützung ihrer Ahnen durch Opfer und Ausrichtung von Festen.
Dieses Objekt ist eines von 1.200, das Günter Tessmann in der bisher einzigen von Lübeck für Lübeck geplanten und durchgeführten Afrika-Expedition zwischen 1907 und 1909 gesammelt hat. Dieses groß angelegte Projekt, das 12.000 Mark gekostet hat, wurde von der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit, Bürgermeister Dr. Schön, Senator Dr. Neumann, dem Museumsfond, der Geographischen Gesellschaft, der Hanseatischen Gesandtschaft in Berlin, dem Kgl. Zoologischen Museum in Berlin sowie von Lübecker Weinhändlern und Apothekern und Privatpersonen finanziert. Die Ergebnisse dieser unter dem Namen "Lübecker Pangwe-Expedition" bekannt gewordenen Sammel- und Forschungsreise haben das Museum in Lübeck berühmt gemacht. Die Ausstellung der großen, umfassenden Sammlung einer Ethnie nebst vielen Modellen war einmalig auf der Welt und deshalb drei Jahrzehnte das Glanzstück des Museums am Dom. Bei der 1942 erfolgten Zerstörung des Museums konnten lediglich 150 Objekte dieser Sammlung gerettet werden. Die 1913 erschienene, u.a. mit Unterstützung von Senator Emil Possehl geförderte, zweibändige Publikation über die Expeditionsergebnisse ist bis heute das Standardwerk über diese gegenwärtig ca. eine Million Menschen umfassende Ethnie der Fang. Dieses Werk aus Lübeck ist 1959/1960 in den USA ins Englische und Teile davon sind 1991/1992 ins Französische übersetzt worden. 2003 hat das spanische Außenministerium eine Übersetzung ins Spanische finanziert. Nahezu alle 1.000 erschienenen Bücher in spanischer Sprache sind nach Äquatorialguinea gesandt worden, das erst 1968 seine vollständige Unabhängigkeit von Spanien erhalten hat; so schließen sich Kreise! Eine zweite Auflage in spanischer Sprache wird gerade vorbereitet.
Reliquiarfigur der Fang, Äquatorialguinea, Holz, Metall, Federn, Pflanzenfasern, H: 95 cm. Sammlung Günter Tessmann, im Rahmen der Pangwe-Expedition des Museums für Völkerkunde zu Lübeck, 1907-1909 (Foto: Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck)
Weiterführende Infos
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Geschrieben von Brigitte Templin